Der Fragesteller oder die Fragestellerin scheint mit dem Begriff Esoterik eine eindeutig negative Wertung zu verbinden, denn es ist vom „Abdriften" die Rede, also vom Abgetrieben-Werden vom richtigen Weg. Das dürfte innerhalb der großen Kirchen die mehrheitlich vertretene Meinung sein, und sie hat manche gute Gründe für sich.
Heutige Esoterik versteht sich oft als Praxis einer elitären Minderheit, die niemanden Außenstehenden in ihre Karten schauen lässt. Sie beruft sich nicht selten auf Lehren, die nur den Insidern weitergegeben werden dürfen, weil Außenstehende sie zwangsläufig missverstehen würden. – Dieser Gedanke ist nicht ganz falsch. Auch das Christentum hat seine zentralen Glaubensaussagen immer als „Mysterien" bezeichnet, als Geheimnisse, die nur im Glauben erfasst werden können. Eine Botschaft wie die von der Auferstehung übersteigt die Möglichkeiten der Vernunft. Sie ist nie völlig rational einsehbar und erklärbar, geschweige denn beweisbar. Und dennoch hat das Christentum von Anfang an Wert darauf gelegt, dass die Getauften „stets bereit [sind], jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach dem vernünftigen Grund der Hoffnung fragt, die [sie] erfüllt." (1 Petr 3,15) Der Glaube übersteigt die Vernunft, aber er ist vernunftgemäß, und das sollen Christinnen und Christen jederzeit vor Anders- oder Nichtglaubenden zeigen. Wenn sich Esoterik diesem Anspruch verweigert, muss ihr mangelnde Dialogbereitschaft und Kritikfähigkeit vorgeworfen werden.
Moderne Esoterik beansprucht zweitens oft, einen Weg nach innen zu beschreiten und im Gegensatz zur Volksreligion nicht auf äußerliche Rituale, sondern vorwiegend oder ausschließlich auf innerliche Prozesse zu setzen. – Dieser Kritik sollten sich die großen Kirchen meines Erachtens ehrlich und offen stellen. Natürlich wird sich manche esoterische Strömung als oberflächliches Plappern oder gar träumerisch-romantisches Verdrängen der leidvollen und widersprüchlichen Wirklichkeit entlarven lassen. Wo sie so ist, sollten wir sie auch entlarven, denn dann hindert sie Menschen an echter, tragfähiger Lebensbewältigung. Aber umgekehrt müssen wir uns in den großen Kirchen auch immer wieder die Frage stellen lassen, wie weit wir selbst die Menschen zu mehr Innerlichkeit führen (siehe Frage Nr. 39 vom Juli/ August 2014).
Besteht also für Pilgergruppen die Gefahr, in die Esoterik abzudriften? Grundsätzlich ist das denkbar, wenn ich diese Gefahr auch nicht für sehr hoch halte. Aber zweierlei sollten sich Pilgergruppen, die öfter miteinander unterwegs sind, auf jeden Fall selbstkritisch fragen:
- Sind wir eine eingeschworene, nach außen aber abgeschottete Gruppe, die Neue nur unter strengen Bedingungen zulässt? Oder zeigen wir uns offen für neue Menschen und neue Ideen und verstehen uns wirklich als kleinen Teil eines größeren Ganzen?
- Wie steht es mit unseren spirituellen Impulsen und Ritualen? Nehmen wir unkritisch irgendwelche Praktiken und Lehren auf, die keinerlei wissenschaftliche Überprüfung durchlaufen haben? Oder stellen wir neue, mehr innerliche Elemente des Wallfahrens, die grundsätzlich zu begrüßen sind, vorher auf den Prüfstand einer vernünftigen Kritik?
Ein guter Indikator, ob eine Gruppe in die Esoterik abdriftet, sind die Gottesdienste am Wallfahrtsort: Kann die Gruppe dort gut und unbefangen mit anderen Wallfahrtsgruppen zusammen Gottesdienst feiern? Oder igelt sie sich ein in eine winzige liturgische Nische, zu der niemand anders Zutritt hat?
Von Professor Dr. Michael Rosenberger