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Eine Antwort von Professor Dr. Michael Rosenberger

Braucht eine Wallfahrt überhaupt ein Ziel?

Pilgerwege anzubieten und auszuschildern ist zu einer der wichtigsten Marketingstrategien im sanften Tourismus geworden. Doch wenn man sich die Routen der „Pilgerwege“ genauer anschaut, dann führen sie oft im Zickzack, um nur ja alle Sehenswürdigkeiten der Region zu erreichen. Oder sie gehen gleich im Kreis und haben denselben Ausgangs- und Zielort. Das scheint dem bekannten Motto zu entsprechen: „Der Weg ist das Ziel.“ Im Grunde, so der Gedanke, ist es ja egal, wohin wir gehen, Hauptsache wir sind unterwegs. Aber stimmt das? Braucht eine Wallfahrt wirklich kein Ziel?

Überlegen wir einen Moment lang, warum sich Menschen überhaupt auf Pilgerschaft begeben. Offenbar suchen sie doch etwas. Klarheit in einer wichtigen Entscheidung, Orientierung für ihr Leben, Trost und Hilfe für schwere Lebensaufgaben oder was es auch immer sein mag. Niemand wird sich die Mühe eines langen und beschwerlichen Weges machen, wenn er nicht etwas sucht. Und er wird enttäuscht sein, wenn er nicht wenigstens teilweise findet, was er gesucht hat. Das Motto „schaun mer mal“ funktioniert jedenfalls beim Wallfahren nicht. Mag sein, dass jemand den Eindruck hat, mit dieser völligen Offenheit und ohne jedes konkrete Ziel loszugehen. Aber ich behaupte, dass das nur sein Eindruck ist. Im Laufe der Wallfahrt wird er sehr wohl merken, dass es eine tiefere und konkretere Motivation für die Wallfahrt gab, und dass der Pilgerweg einer inneren Logik, dem Lockruf eines inneren Zieles gefolgt ist.

So wie das innere Ziel braucht die Wallfahrt dann aber auch ein äußeres, sichtbares Ziel. Denn der leibhaftige Vollzug des Gehens soll ja den inneren Weg des Pilgernden widerspiegeln. Es braucht die Erfahrung, verlockende Nebenziele „links liegen zu lassen“, um dem einen großen Ziel der Wallfahrt zu folgen. Es braucht die Erfahrung, diesem Ziel immer näher zu kommen, es von Tag zu Tag näher zu spüren, obwohl es noch gar nicht zu sehen ist. Es braucht die Herausforderung, dass es ein Scheitern geben kann, wenn das Ziel nicht erreicht wird. Ohne ein konkretes Ziel wäre ein Scheitern nicht möglich – doch zum Leben gehört das Scheitern und Scheitern-können hinzu. Und es braucht auch die Erfahrung, ein gestecktes Ziel zu erreichen – nicht allein aus eigenem Verdienst, sondern unverdient geschenkt, aus Gnade.

Der Pilger ist also kein Vagabund, der ziellos und ungebunden mal hierhin, mal dorthin geht. Er ist kein Globetrotter, der einfach so aus Spaß unterwegs wäre und die Dinge auf sich zukommen lässt. Er lässt sich nicht treiben von momentanen Gefühlen – sondern von der großen Sehnsucht, die ihn zum Aufbruch gedrängt hat. Der Sehnsucht, mehr zur eigenen Lebensquelle zu finden, mehr die eigene Identität zu entdecken, mehr er selber zu sein. Der Weg ist das Ziel? Ja, auch das. Vor allem aber: Der Weg hat ein Ziel!

Wenn das stimmt, spielt es freilich auch eine Rolle, welches Ziel sich jemand für seinen Pilgerweg wählt. Jeder Wallfahrtsort kennt mehrere Bedeutungen. Aber keiner ist beliebig für alle Anliegen gleichermaßen geeignet. Für jedes innere Ziel einer Wallfahrt gibt es viele geeignete Wallfahrtsorte. Aber nicht alle sind für ein bestimmtes Anliegen optimal. Menschen, die ihre körperlichen Gebrechen und Leiden ausdrücken wollen, werden nach Lourdes pilgern oder zu einer Wallfahrtskirche der Schmerzensmutter. Menschen, die ein intensives Erlebnis von Weltkirche suchen, gehen womöglich nach Rom. Personen, die auf der Suche nach sich selbst sind, wird der Jakobsweg nach Santiago anziehen usw.

Braucht eine Wallfahrt ein Ziel? Eindeutig! Ich halte „Pilgerwege“, die aus Marketing-Gründen im Zickzack oder gar im Kreis führen, für Etikettenschwindel. Man sollte sie Meditationswege oder Besinnungswege nennen, aber nicht Pilgerwege. Pilgerwege haben eine klare Richtung. Wie ein Magnet zieht das Wallfahrtsziel den Pilgernden an – mit unwiderstehlicher Kraft. Und das ist gut so.