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Eine Antwort von Professor Dr. Michael Rosenberger

Darf man „alte Zöpfe“ abschneiden? Braucht die Wallfahrt neue Formen? Zwischen alter Tradition und neuem Trend

„Da beten wir immer einen Rosenkranz für die Verstorbenen!“ Oder: „Da singen wir immer ein Marienlied!“ Solche Äußerungen bekommt zuhauf zu hören, wer zum ersten Mal an einer traditionsreichen Wallfahrt teilnimmt. Mehr als fast alle anderen religiösen Vollzüge – vielleicht mit Ausnahme des Heiligen Abends in der Familie – sind Wallfahrten bis in die kleinsten Details hinein sehr festgelegt. Das liegt vor allem an ihrer Ganzheitlichkeit. Bräuche und Gewohnheiten sind jeweils mit einem ganz bestimmten Ort und einer ganz bestimmten Zeit verbunden. Damit graben sie sich als ganzheitliches Erlebnis ins Gedächtnis der Pilgerinnen und Pilger ein und werden fast automatisch wieder wachgerufen, wenn man sich dem zugehörigen Ort nähert.

Nun ist es zunächst einmal sehr wertvoll, dass Erinnerungen an frühere Wallfahrten lebendig bleiben, denn sie vertiefen das Erleben der Wallfahrt sehr. Es ist wie bei einem alten Ehepaar, das an den Ort der ersten Begegnung, des ersten Kusses oder der Hochzeitsreise zurückkehrt. Die Erinnerungen werden sehr intensiv sein und die alte Liebe neu beleben. Und womöglich wird das Ritual vom Anfang bewusst wiederholt, und die beiden geben sich am Ort des allerersten Kusses nun, Jahrzehnte später, noch einmal einen Kuss. Der wird für sie etwas ganz Besonderes sein!

Alte, tief in die Erinnerung eingegrabene Rituale haben also eine große Kraft – selbst für neu teilnehmende Pilgerinnen und Pilger. Sie werden von den „alten Hasen“ ganz automatisch mit hineingenommen in den großen Strom der Traditionen, in denen sie stehen. Gerade deswegen muss man aber immer wieder prüfen, ob die alten Rituale noch stimmig sind, angemessen für heutige Menschen und unsere Weise, den christlichen Glauben als einen jungen, hellwachen und lebendigen Glauben zu leben. Rituale können ja auch in Äußerlichkeiten erstarren. Dann verhindern sie gerade das, was sie eigentlich bewirken möchten: Dass das Innere der Menschen angerührt und bewegt wird. Das gilt womöglich dort, wo Wallfahrten jahrhundertealte Gebete unverändert weiterverwenden. Bei aller Ehrwürdigkeit solcher Gebete kommt es doch nicht selten vor, dass sie eine Theologie vermitteln, die dem heutigen Stand von Kirche und Glauben bestenfalls sehr eingeschränkt entspricht, und dass sie eine Sprache sprechen, die wir kaum noch verstehen können. Ebenso starr wirkt mitunter die fast ausschließliche Verwendung des Rosenkranzgebets. Bei allem Wert, den dieses Gebet gerade auf Wallfahrten hat, sollte man doch die heute vorhandene Vielfalt von Gebetsformen nutzen und den Pilgernden anbieten.

Insofern brauchen alte Traditionen eine kontinuierliche Überprüfung: Was ist (noch) gut und hilfreich, förderlich für den Glauben der Teilnehmenden und was nicht (mehr)? Und wenn etwas nicht mehr förderlich ist: Kann es in produktiver Weise umgeformt werden, so dass es seine alte Absicht in neuer Gestalt verwirklicht, oder sollte man es lieber beiseitelegen und durch etwas völlig Neues ersetzen? Diese Fragen sollte sich jede Wallfahrtsleitung, beraten durch einen studierten Theologen oder einer studierten Theologin, alle fünf bis zehn Jahre in aller Ruhe und sehr genau ansehen und mutige Schritte der Anpassung gehen: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21)

Gerade Pilgern bedeutet: Stillstand ist Rückschritt. Es gilt, Schritt für Schritt weiterzugehen in eine Zukunft, die anders ist als die Gegenwart. „peregrinatio semper reformanda“ – „Die Wallfahrt muss ständig erneuert werden!“