“Si cor non orat, lingua in vanum laborat.“ So lautet ein alter Spruch, der über vielen Oratorien der Klöster steht: „Wenn das Herz nicht betet, arbeitet die Zunge umsonst.“ In Abwandlung könnte man sagen: „Wenn das Herz nicht sucht, pilgern die Füße umsonst.“ Und genau das ist der Sinn von stillen Zeiten bei einer Wallfahrt: Dafür zu sorgen, dass nicht nur die Füße und die Zunge in Bewegung sind, sondern auch das Herz. Natürlich kann man auch die Stille „totschlagen“, die stille Zeit vorüberziehen lassen, ohne ihre Möglichkeiten zu nutzen. Aber das ist jedenfalls nicht so einfach, wie wenn man dauernd betet oder redet.
Für mich gehören täglich mindestens zwei stille Zeiten von je einer halben bis dreiviertel Stunde zu einer guten Wallfahrt dazu. Gerne auch mehr, sicher aber nicht weniger. Und auch wenn Neulinge in meinen Wallfahrtsgruppen anfangs befürchten, sie würden so lange stille Zeiten nicht aushalten, entdecken sie spätestens am zweiten oder dritten Tag, wie gut diese tun. Natürlich: Damit die Stille positiv wirken kann, damit sie uns zum Türöffner für die Reise nach innen wird, muss die Wallfahrtsleitung die Stille füllen. Das kann auf zweierlei Weise geschehen:
Einerseits können gegen Ende eines Wallfahrtstages einige kurze Impulsfragen anregen, nochmals an den Weg dieses Tages zurückzudenken: Ihn nochmals am eigenen Auge vorbeiziehen lassen und vor allem nochmals an die Schrifttexte denken, die man an diesem Tag betrachtet und durchbetet hat. Was hat mich besonders angesprochen? Was hat mich überrascht, wachgerüttelt, gestört? Was hat mich weitergeführt? Wer auf diese Weise nochmals die spirituellen Impulse des Tages bedenkt, auf den wirken sie doppelt – und sinken tiefer in das eigene Herz ein.
Andererseits können stille Zeiten, besonders in den Morgenstunden oder im Laufe des Vormittags, zur „Einübung der Sinne“ dienen, die uns der heilige Ignatius von Loyola ans Herz legt. In seinem Exerzitienbuch empfiehlt er, nacheinander immer nur einen Sinn zu üben und sich ganz auf diesen zu konzentrieren. Das heißt: Eine stille Zeit „ganz Ohr“ sein, nur hören – das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume ebenso wie das Lärmen von Autos oder Maschinen. Eine andere stille Zeit „ganz Auge“ sein, nur sehen – die Farben der Pflanzen und des Himmels ebenso wie die Formen der Bäume und das Fließen des Wassers. Eine dritte stille Zeit „ganz Nase“ sein, nur riechen – den Duft von Pflanzen und den eigenen Schweiß, den Geruch der Erde und des Asphalts der Straße. Und schließlich: Eine stille Zeit „ganz Haut“ sein, nur fühlen – den sanften Wind und die Tropfen des Regens, die Wärme der Sonne und die Unebenheiten des Bodens (und vielleicht sogar mal ein Stück barfuß gehen!).
Wer auf diese Weise die stille Zeiten füllt, wird erleben, wie sehr sie die Reise nach innen beflügeln. Und um die geht es ja letztlich beim Wallfahren. Insofern wünsche ich allen Pilgerbegleiterinnen und -begleitern und Wallfahrtsleiterinnen und -leitern den Mut, die Stille von der Gruppe einzufordern. Es wird sich hundertfach auszahlen.