Im alttestamentlichen Israel zum Beispiel ist die regelmäßige Wallfahrt zum Jerusalemer Tempel spätestens nach dem babylonischen Exil, also seit dem 5. Jahrhundert vor Christus, eine Pflicht für jeden volljährigen männlichen Juden. Nach Dtn 16,16f und Ex 23,17; 34,23f war ein dreimaliges Erscheinen im Tempel gefordert – zu allen drei großen Festen: dem Pe-sachfest, dem Wochenfest (Pfingsten) und dem Laubhüttenfest. 1 Sam 1,3 und Lk 2,41 könn-ten darauf hindeuten, dass es genügte, wenn man einmal jährlich nach Jerusalem hinaufzog. Und für Juden in der Diaspora hat man vermutlich schon früh eine reduzierte Verpflichtung akzeptiert, einmal im Leben die Wallfahrt zu vollziehen.
Der Islam kennt als eine der „fünf Säulen” der Religion die Verpflichtung, mindestens einmal im Leben die Pilgerfahrt („Hadsch”) zu den heiligen Stätten in Mekka zu vollziehen, wo der Prophet Mohammed seine entscheidenden Offenbarungen erhielt (Sure 3,97). Wer an dieser Pilgerfahrt teilgenommen hat, trägt von da an den Ehrentitel „Hadschi” - „Pilger”.
Der Hinduismus kennt in Indien bereits in der vedischen Literatur große Wallfahrtsorte, „hei-lige Städte“, zu denen an bestimmten Festtagen Millionen Menschen pilgern, aber auch klei-ne, regionale Pilgerzentren, zu denen die Menschen oftmals und auch außerhalb der Festzei-ten pilgern.
Schließlich hat sich im Buddhismus relativ bald nach dem Tod Buddhas die Praxis entwi-ckelt, dass man zu den bedeutendsten Stätten seines Lebens und Wirkens pilgert: Zu seinem Geburtsort, zum Ort seiner Erleuchtung, zur Stätte seiner ersten Predigt, zu seinem Sterbeort. Außerhalb Indiens sind weitere Orte hinzu gekommen, die oftmals eine Verbindung zur Gründerpersönlichkeit herzustellen versuchen.
So kann das Wallfahren längerfristig zu einer Möglichkeit der interreligiösen Annäherung und Begegnung werden. Dann würden vor allem jene Orte Bedeutung gewinnen, die mehrere Re-ligionen gemeinsam aufsuchen. In Ephesus zum Beispiel verehrt die Kirche seit der Spätantike das Haus der Gottesmutter Maria, in dem sie auch gestorben sein soll. Heute befindet sich dort eine kleine Kirche, auf dem Berg Aladag gelegen. Dorthin pilgern auch viele Musliminnen und Muslime: Maria ist für sie die Mutter des zweitgrößten Propheten und damit eine der wichtigsten Persönlichkeiten ihres Glaubens. Deshalb wird die Gebetsnische jeder Moschee „Mihrab“ genannt, genau wie die Zelle, in der Maria weilte, als der Engel Gabriel ihr die Botschaft brachte (vgl. Sure 19 „Maria”). Wer schon einmal Mitte August in der Türkei war, hat gewiss die Plakate gesehen, auf denen zur muslimischen Wallfahrt nach Ephesus am 15. August, dem Fest der Himmelfahrt Mariens, eingeladen wird. Sie hängen in jedem Dorf an den Moscheen. Und Hunderttausende folgen dem Aufruf.
So wie Ephesus gibt es auch andere Orte, die mehrere Religionen als heilige Orte verehren. Wenngleich sie bisher oft Orte harter Konflikte und Auseinandersetzungen waren, könnten sie doch in Zukunft Stätten des Friedens und der Begegnung werden. Der Prophet Micha sieht es in einer großen Vision für den Zionsberg in Jerusalem. Dorthin, so prophezeit er, werden Menschen aller Völker pilgern. Und jedes Volk ruft dann den Namen seines Gottes an (Mi 4,5).