Dass Gott überall gleich präsent ist, heißt aber noch nicht, dass wir ihn überall gleich gut spüren können. So wie wir die Gegenwart eines geliebten Menschen an manchen Orten besonders intensiv spüren und an anderen kaum, so gilt das auch für die Gegenwart Gottes. Und so wie der Eine seinen Gott mehr auf einem einsamen Berggipfel spürt, nimmt ihn die Andere leichter an einem munter plätschernden Bach wahr. Wie der Eine die göttliche Gegenwart leichter in einer kleinen Dorfkirche wahrnimmt, sucht die Andere eher die großen Kathedralen, wenn sie Gott ganz nahe spüren möchte. Jeder Mensch hat seine Orte, die ihn am leichtesten für das göttliche Geheimnis öffnen.
Wallfahrtsorte sind „heilige Orte“, weil an ihnen im Laufe der Geschichte besonders viele Menschen das Heilige und den Heiligen besonders gut gespürt haben. Dazu braucht man gar nicht über irgendwelche übersinnlichen Kräfte spekulieren, die im Wasser einer heiligen Quelle oder im Stein eines heiligen Felsens wirken. Es genügt schon anzunehmen, dass das Ensemble des Ortes die Herzen vieler Menschen leichter öffnet als die alltäglichen Gebetsorte und Kirchen. Heilige Orte als „Kraftorte“ zu bezeichnen kann christlich gesehen nur heißen, sie als Orte einer spirituellen Kraft, einer Herzenskraft wahrzunehmen. Alles Spekulieren über andere Kräfte sollten wir den Physikerinnen und Physikern überlassen!
Doch natürlich bleibt es richtig: Orte (und auch Zeiten) beeinflussen unsere religiöse Offenheit und Gestimmtheit. Es ist nicht egal, wo (und wann) wir beten. Nicht jede Kirche spricht uns an und bringt uns von selbst zum Beten; nicht jeder Berggipfel lässt uns die Ehrfurcht vor dem Schöpfer spüren. Aber manche Kirche und mancher Berggipfel werden in uns Bewegungen auslösen, die uns tief im Innersten verändern und erneuern. – Auch solche Wandlung wird aber von Ort zu Ort unterschiedlich sein. So gibt es (Wallfahrts-)Orte, die in den Pilgern eher strahlende Freude auslösen (wie die weite, lichtdurchflutete Basilika von Vierzehnheiligen), und andere, die eher Orte der Zuflucht und des Trostes sind (wie die dunkle, bergende Gnadenkapelle von Altötting).
Auf diese Weise sind Wallfahrtsorte ein buntes und vielfältiges Angebot Gottes an uns: Such dir den heiligen Ort, der dir gut tut, der zu deiner momentanen Gestimmtheit passt und dich auf deinem Glaubensweg hier und heute weiterführt! Und wenn du das Gefühl hast, du kannst derzeit zuhause gut beten – wirklich gut und intensiv – dann bleib dort so lange, bis sich das ändert und du den Eindruck hast, du solltest mehr Nähe zu Gott suchen, intensiver seine Gegenwart spüren, lebendiger mit ihm in Verbindung sein. Das Pilgern ist im Christentum keine Pflicht. Wer es tut, sollte es tun, weil er den Ruf Gottes spürt, der ihn jetzt auf den Weg ruft. Dann aber kann das Aufsuchen heiliger Orte für uns zur Quelle wunderbarer Erfahrungen werden.