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Pilgern durch die Coronakrise - 29. Mai 2021

Liebe Pilgernden auf dem Weg hinaus ins Weite, rund fünfzehn Monate Pandemie liegen hinter uns. Und auch wenn Covid-19 uns noch eine Weile begleiten wird, verblasst seine Durchschlagskraft und verliert ihren Schrecken.

Sofern nicht noch irgendwelche gefährlichen Super-Varianten daherkommen, dürften wir das Schlimmste überstanden haben. Deswegen beende ich mit dem heutigen Rundbrief meine wöchentlichen Schreiben und kehre zum üblichen Modus zurück, mich nur dann und wann zu melden, wenn es einen aktuellen Hinweis gibt. Zugleich gilt natürlich mein Versprechen, dass ich sofort wieder da bin, wenn das Infektionsgeschehen wider Erwarten nochmals aufflammt.

Gestern hat die österreichische Bundesregierung ein Ende der allermeisten Covid-Maßnahmen zum 1. Juli angekündigt. Ein ambitioniertes Ziel, das nur machbar ist, wenn sich bis dorthin alle an die noch geltenden Regeln halten. Heute hat Deutschland zum ersten Mal seit mehreren Wochen wieder eine niedrigere 7-Tage-Inzidenz als Österreich. Vor zehn Tagen hatte Österreich erheblich gelockert, und mit der üblichen Verzögerung von 7 bis 10 Tagen kann man es nun an den Zahlen ablesen. Noch geht es, weil die Zahlen weiter sinken – zwar deutlich langsamer, aber eben doch. Dennoch sollten wir die Warnung ernst nehmen und die noch geltenden Regeln sorgfältig beachten. Leider tun das nicht alle. Am Mittwoch war ich das erste Mal nach dem Lockdown wieder im Restaurant. Entgegen allen Vorschriften und entgegen den hochheiligen Schwüren der GastronomiefunktionärInnen in den Medien wurde nicht kontrolliert, ob man geimpft, genesen oder getestet ist. Und das Personal trug nicht einmal Maske. Der Kollege, mit dem ich dort war, bestätigte mir, dass er ein paar Tage vorher schon in Wien in einem Restaurant war – und dort exakt das Gleiche beobachtete. Der Leichtsinn scheint sich Bahn zu brechen – und das könnte sich noch als fatal erweisen.

Manche werden sich vielleicht daran erinnern, dass ich bereits vor Weihnachten als Zeitraum zur weitestgehenden Normalisierung den Anfang des Juli ins Spiel gebracht hatte. Das sage ich, weil es bemerkenswert ist, wie verlässlich die Langfristprognosen der Fachwissenschaften waren. In Wirklichkeit gab es kein „Impfchaos“ und kein „Stottern des Impfmotors“. Vielmehr ist im Großen und Ganzen eingetroffen, was versprochen war – nur wollten wir gerne etwas anderes hören und haben das langsame Hochfahren der Impfstoffproduktion und das halbe Jahr Wartezeit geflissentlich überhört. Geduld ist im 21. Jahrhundert die vielleicht schwierigste Tugend geworden.

Zum Abschied möchte ich euch/ Ihnen allen ein altbekanntes Evangelium mitgeben, das im Kontext der Pandemie besondere Bedeutung gewinnt (Lk 17,11-19):

Aus dem Evangelium nach Lukas

Und es geschah auf dem Weg nach Jerusalem: Jesus zog durch das Grenzgebiet von Samarien und Galiläa. Als er in ein Dorf hineingehen wollte, kamen ihm zehn Aussätzige entgegen. Sie blieben in der Ferne stehen und riefen: Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns! Als er sie sah, sagte er zu ihnen: Geht, zeigt euch den Priestern! Und es geschah, während sie hingingen, wurden sie rein.

Einer von ihnen aber kehrte um, als er sah, dass er geheilt war; und er lobte Gott mit lauter Stimme. Er warf sich vor den Füßen Jesu auf das Angesicht und dankte ihm. Dieser Mann war ein Samariter. Da sagte Jesus: Sind nicht zehn rein geworden? Wo sind die neun? Ist denn keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, außer diesem Fremden? Und er sagte zu ihm: Steh auf und geh! Dein Glaube hat dich gerettet.

Der Begriff „Aussatz“ war in biblischer Zeit ein Sammelbegriff, der zahlreiche sehr unterschiedliche Krankheiten bezeichnen konnte. In Lev 13-14 werden verschiedenste Hautkrankheiten, die eine Veränderung der Haut oder auch Haarausfall (Lev 13,42) zur Folge haben, unter dem Oberbegriff „Aussatz“ zusammengefasst: Ekzeme, Krätze, Grind, Schuppenflechten, Nekrosen, Hautflecken. Man wusste, dass manche von ihnen ansteckend waren, manche auch nicht. Daher gab es eine „Testpflicht“: Der oder die Betroffene musste sich im Verdachtsfall an den Priester wenden. Bei positiver Diagnose erklärte dieser die betroffene Person für unrein. Sie wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen (Lev 13,45) und lebte außerhalb des Stadt (2 Kön 7,3), und zwar entweder befristet für eine Woche, nach der sie sich einer erneuten Untersuchung durch den Priester unterzog, oder unbefristet, bis die Symptome verschwanden. So waren die biblischen Quarantäneregeln. Festgestellter Aussatz bedeutete die völlige Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Jeder Kontakt zu Gesunden war strikt verboten. Die gebotenen Abstände waren so groß, dass ein Gespräch oder eine Begegnung zwischen Aussätzigen und Gesunden praktisch unmöglich war. Von zwei Metern Abstandspflicht konnte man damals nur träumen.

In der Corona-Pandemie haben wir erleben dürfen, dass Not gleich macht. So ist es auch im Evangelium: Jüdische und samaritanische Aussätzige leiden unter der gleichen strengen Ausgrenzung. Das schweißt sie zusammen, so dass die zehn Aussätzigen sich als eine feste Gemeinschaft verstehen und erleben. Unter ihnen spielt es keine Rolle mehr, dass sie neun Juden und ein Samariter sind (und damit eigentlich „Erzfeinde“). Sie teilen alles miteinander und halten zusammen. Wie ein homogener Kirchenchor rufen sie Jesus aus einem Munde gemeinsam um Hilfe an – und Jesus erhört sie ohne Unterschied. Die Juden werden (aus der von der Tora gebotenen Distanz, wie Lukas ausdrücklich erwähnt!) ebenso geheilt wie der Samariter.

Doch kaum ist die Not überwunden, endet die Solidarität. Ein einziger kehrt um und bedankt sich bei Jesus. Alle anderen vergessen in ihrer Ungeduld völlig, welch großes Geschenk ihnen zuteil geworden ist, so sehr gieren sie schon nach dem „grünen Pass“, den ihnen der Priester ausstellen wird. Man ahnt, was für einen Wettlauf sie veranstalten, denn jeder will als erster von der Quarantäne befreit werden. Es ist wie beim Drängeln um die Impftermine und beim Pochen darauf, dass die Geimpften sofort wieder ihre vollen Rechte erhalten – egal wie lange die anderen noch warten müssen. Kaum ist die Not vorbei, gilt wieder das Gesetz des Ellenbogens.

Und jetzt kommt der Clou der lukanischen Geschichte: Der eine, der innehält und sich Zeit lässt, ist ausgerechnet der Samariter. Der Minderwertige, der Ausländer, der Ungläubige. Und ausgerechnet zu ihm sagt der Jude Jesus: „Dein Glaube hat dich geheilt“. Er erkennt den Glauben des „Ungläubigen“ an. Er spürt, dass in ihm mehr an Vertrauen und Hoffnung steckt als in den neun „Rechtgläubigen“. Für ihn ist nicht die äußere Religionszugehörigkeit entscheidend, sondern das, was jemand im Herzen trägt. Wo Abgrenzung aus hygienischen Gründen nötig ist, erkennt Jesus sie an. Aber wo Abgrenzung keinen Sinn hat wie zwischen JüdInnen und SamariterInnen, da wirft er die geltenden Barrieren mit Leichtigkeit über den Haufen.

Vielleicht wäre das eine der wichtigsten Lehren aus der Pandemie: Was haben wir uns alle aufgeregt über die aus Hygienegründen notwendigen Abgrenzungen voneinander. Ach, würden wir uns doch nur halb so engagiert gegen die hygienisch betrachtet völlig unnötigen Ab- und Ausgrenzungen in unserer Gesellschaft wehren! Wir hätten ein ganz anderes Deutschland, Österreich, Europa vor uns als jetzt.

Viele werden jetzt Schritt für Schritt die neuen Freiheiten genießen lernen – und ich betone das Wort „lernen“, denn ich merke an mir selbst, dass die Gefühle dafür länger brauchen als der Kopf. Nach so langer Zeit müssen wir uns neu daran gewöhnen, so Vieles zu dürfen. Viele werden jetzt auch den Blick nach vorne richten und einen Sommerurlaub zu planen beginnen. Schön, dass uns das möglich ist! Umso mehr lade ich ein, im Vorfeld der neuen Freiheiten Rückschau auf die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in der Pandemie zu halten. Dabei kann es hilfreich sein, die wichtigsten Erkenntnisse dieser Rückschau aufzuschreiben. Dazu gebe ich gerne einige Leitfragen:

  • Welche Erfahrungen waren für mich in dieser Zeit besonders wichtig? Ich denke dabei an bedrückende, Angst machende, schmerzliche Erfahrungen ebenso wie an beglückende, Kraft spendende und ermutigende Erfahrungen. Ich denke an einmalige, aus dem Covid-Alltag herausragende Erfahrungen ebenso wie an alltägliche Erfahrungen, die mir ständige Begleiterinnen waren.
  • Welche Erkenntnisse habe ich in dieser Zeit neu gewonnen? Was waren die „Aha“-Erlebnisse in der Pandemie? Ich denke dabei an Erkenntnisse für meine eigene zukünftige Lebensgestaltung, Erkenntnisse für mein Verständnis der Gesellschaft und ihrer komplexen Mechanismen und an Erkenntnisse für meinen Glauben und meine Spiritualität.
  • Welche Dinge, Güter, Hobbies, Beschäftigungen in meinem Leben haben an Bedeutung verloren – und welche Dinge, Güter, Hobbies, Beschäftigungen in meinem Leben haben an Bedeutung gewonnen? Ist es dadurch zu einer Wertverschiebung gekommen?
  • Analog kann ich mich auch fragen: Welche Menschen in meinem Leben haben an Bedeutung verloren – und welche Menschen in meinem Leben haben an Bedeutung gewonnen? Habe ich womöglich in dieser Krisenzeit FreundInnen verloren, weil es zum Konflikt kam? Habe ich neue FreundInnen gewonnen, mit denen mich die Krise auf wunderbare Weise zusammengebracht hat? Hat sich durch die Beschränkung auf den Kontakt mittels elektronischen Medien womöglich manche „Entfernung“ zu FreundInnen verkürzt?
  • Schließlich: Was nehme ich mir für die Zeit nach der Pandemie vor? Welche Änderungen wünsche ich mir für mein persönliches Leben? Dabei sollte ich unbedingt darauf achten, dass die Zielsetzungen „smart“ sind: 1) Jedes Ziel soll spezifisch vorgeben, an welchem Punkt ich ansetzen will. 2) Es soll messbar sein. 3) Es soll für alle von ihm Mitbetroffenen akzeptabel sein. 4) Es soll realistisch sein. 5) Es soll terminiert sein, also einen klaren Zeitpunkt für die Zielerreichung haben.

Über die Rückschau auf die eigenen Erfahrungen in der Krise hinaus könnte auch eine Rückschau auf die Rundbriefe hilfreich sein:

  • Was waren für mich besondere „Aha-Effekte“ in den Rundbriefen? Wo habe ich neue Sichtweisen, wichtige Informationen, wertvolle Anstöße bekommen?
  • Welche Gefühle haben die Rundbriefe in mir ausgelöst? Waren sie für mich ermutigend, hoffnungsvoll, tröstlich, oder eher deprimierend, ratlos machend? Und wenn beides: Wann waren sie das eine und wann das andere?
  • Welche Fragen haben mir die Rundbriefe mitgegeben, über die ich noch weiter nachdenken möchte? Welche Gedanken gehen mir auch jetzt noch öfter durch den Kopf und haben sich in mir festgesetzt?
  • Was hat mich in den Rundbriefen gestört oder welchen Überlegungen möchte ich widersprechen? Womit war ich nicht einverstanden?
  • Und schließlich: Was mir sonst noch zu den Rundbriefen einfällt…

Wer mag, kann mir die eigenen Antworten gerne im Laufe der nächsten Wochen ganz oder in Auszügen zusenden. Ich freue mich auf Rückmeldungen – sie sind für mich ein wichtiges Zeugnis aus dieser Zeit!

So schließe ich meine „Gedanken in der Krise“ ab. Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Ausdrücklich danke ich für alle Rückmeldungen, die mich im Laufe dieser fünfzehn Monate bereits erreicht haben. Ich habe sie immer so gelesen, dass jede erhaltene Rückmeldung für zehn Personen steht, die nicht zurückgeschrieben, aber etwas Ähnliches gedacht haben. Sie waren mir ein gutes Zeichen dafür, dass wir in dieser schwierigen Zeit wirklich miteinander unterwegs waren.

Im Glauben gibt es keine schöneren Wünsche zum Abschied als Segenswünsche. Sie stehen am Schluss. So wünsche ich allen ein gesegnetes Hinausgehen in die Weite, ein Überwinden aller Lasten, die noch verbleiben, ein Heilen aller Wunden, die noch schmerzen, ein Zurücklassen aller Ängste, die noch einengen, und ein Zutrauen in alles, was neu auf uns zukommt! In diesem Sinne Gottes Segen,

Michael Rosenberger

Göttliche Kraft stärke deinen Rücken,

so dass du aufrecht stehen kannst,

wo man dich beugen will!

Göttliche Zärtlichkeit bewahre deine Schultern,

so dass die Lasten, die du trägst,

dich nicht niederdrücken.

Göttliche Weisheit bewege deinen Nacken,

so dass du deinen Kopf frei heben

und ihn frei dorthin neigen kannst,

wo deine Zuneigung vonnöten ist!

Göttliche Zuversicht erfülle deine Stimme,

so dass du sie erheben kannst,

laut und klar.

Göttliche Sorgfalt behüte deine Hände,

so dass du berühren kannst,

sanft und bestimmt.

Göttliche Kraft stärke deine Füße,

so dass du auftreten kannst,

fest und sicher.

Göttlicher Segen sei mit dir!

(Claudia Mitscha-Eibl und Tiroler Frauen)