Liebe Pilgernden im Corona-Tal,
erstmals seit langem hat Österreich heute wieder Deutschland überholt: Die österreichische 7-Tage-Inzidenz liegt aktuell bei 381 Infektionen pro 100.000 Personen, die deutsche bei 402. Der Lockdown zeigt also Wirkung. Leider machen die deutschen Zahlen auch deutlich, dass die aktuellen Maßnahmen gerade einmal dazu reichen, dass die Inzidenz nicht weiter nach oben geht. Ein Sinken der Zahlen ist bei der gegenwärtigen Quote ohne Lockdown offenbar kaum möglich.
Vielleicht haben manche es wahrgenommen: Eine neue Studie des Max-Planck-Instituts in Göttingen zeigt, wie effektiv das Tragen von FFP2-Masken ist. Wenn sich ein infizierter und ein gesunder ungeimpfter Mensch in einem Innenraum bei Einhaltung der geltenden Abstandsregeln 20 Minuten lang begegnen, ergeben sich folgende Ansteckungswahrscheinlichkeiten:
- Beide mit richtig angelegten FFP-2-Masken: 0,1 Prozent
- Beide mit FFP-2-Masken und die gesunde Person ist geimpft: 0,02 Prozent
- Beide mit schlecht sitzenden FFP2-Masken: 4 Prozent
- Beide mit gut sitzenden OP-Masken: 10 Prozent
- Beide ohne Maske: 90 Prozent
„Wir hätten nicht gedacht, dass es bei mehreren Metern Distanz so schnell geht, bis man aus der Atemluft eines Virusträgers die infektiöse Dosis aufnimmt“, so die ForscherInnen. „Denn auf diese Distanz hat sich die Atemluft schon kegelförmig im Raum verbreitet und die infektiösen Partikel entsprechend verdünnt. Die besonders großen und damit besonders virusreichen Partikel fallen zudem schon nach einer kurzen Strecke durch die Luft zu Boden. Trotzdem haben wir in unserer Studie auch in drei Metern Entfernung noch ein enormes Ansteckungsrisiko festgestellt.“ Die Ergebnisse zeigen also sehr eindrücklich, dass das Maske-Tragen ein wichtiger Faktor zur Bekämpfung der Pandemie ist. Das gilt insbesondere an Schulen, wo noch viele Ungeimpfte aufeinandertreffen.
Persönlich denke ich dabei an die Verkäuferin in meiner Stammbäckerei. Ich komme immer früh am Morgen, wenn wenig KundInnenverkehr ist. Fast immer muss sie dann die Maske erst aufsetzen und jammert mit einem lauten Seufzer oder einem Kommentar, der ihre Ablehnung der Maskenpflicht deutlich macht. Ich habe ihr meinerseits beim allerersten Mal deutlich gemacht, dass sie mit der Maske doch mich schützt, und jetzt brauche ich nur noch mit den Augen zu rollen, dann lenkt sie schon ein. Es ist ein Ritual zwischen uns geworden. – Natürlich ist das Maskentragen lästig – noch dazu, wenn man eine Treppe hinaufsteigen muss oder eine anstrengende Tätigkeit vollzieht, für die man tief atmen muss. Aber es hat eine hohe Wirkung – das sollten wir nicht vergessen.
Mein Hauptthema heute ist allerdings ein anderes: Die Spaltung der Gesellschaft. Vom ersten Tag der Pandemie an war zu beobachten, wie sich die Gesellschaft in zwei Gruppen aufspaltet: Diejenigen, die die Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen mittragen und einfordern, und jene, die sie für völlig falsch und unsinnig halten und sich dagegen wehren. Zwischen diesen beiden Gruppen gibt es praktisch keine Mittelposition. Es ist ein klassisches Schwarz-Weiß-Thema, und das liegt in der Natur der Sache: Entweder ich finde das Maskentragen richtig oder ich finde es falsch. Entweder ich lasse mich impfen oder ich lasse mich nicht impfen. Einen dritten Weg zwischen den beiden gibt es nicht.
Dazu kommt eine hohe Emotionalisierung dieser Frage in beiden Lagern. Die einen haben große Sorge, infiziert zu werden, die anderen haben große Angst vor Impfschäden. Die einen sind finanziell und beruflich relativ gut abgesichert, die anderen fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz. Die einen kommen mit der drastischen Reduktion der Sozialkontakte ganz ordentlich zurecht, die anderen leiden massiv unter den psychischen Beeinträchtigungen. Es steht also unheimlich viel auf dem Spiel – für beide „Lager“ – und das schürt die Emotionen. Sachliche Diskussionen sind kaum möglich.
Teilweise sind die beiden Standpunkte auch religiös aufgeladen. Geimpft oder nicht geimpft, das ist die neue Glaubensfrage. Während die deutsche Gesellschaft bis in die 1960er Jahre in katholisch und evangelisch gespalten war, von getrennten Konfessionsschulen bis zur Diskriminierung der gemischten Ehen, und während in den letzten drei Jahrzehnten die Trennlinie zwischen christlich und muslimisch verlief, ist der neue Graben der zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der Schutzmaßnahmen. Um es einmal so zu sagen: Corona ist der neue Islam. Mit religiöser Inbrunst und Feuereifer vertreten die einen wie die anderen ihre Position.
Als Theologe möchte ich einwenden: Es geht um eine zwar sehr existenzielle, aber letztlich weltliche Frage! Von ihr hängt zwar viel ab, aber nicht das ewige Heil der Menschen. – „Na hoppla“, werden da manche einwenden, „ewiges Heil? Was ist denn das? Daran glaube ich ja schon lange nicht mehr!“ Eben, würde ich sagen, das ist vielleicht ein Teil des Problems. Wenn wir nicht mehr an ein Heil jenseits dieser Welt und nach dem irdischen Tod glauben, verschärft sich die Sorge um das diesseitige Wohlergehen ganz dramatisch. Denn dann müssen wir ja umso verbissener und verzweifelter darum streiten, wie der bessere Weg aus der Pandemie aussieht. Daher würde ich bei aller Notwendigkeit der Auseinandersetzung zu etwas mehr Gelassenheit raten – so illusorisch dieser Rat auch sein mag.
Gleichwohl: Die Spaltung der Gesellschaft ist da – und sie hat sich mittlerweile ziemlich verfestigt. Es gibt kaum noch „ÜberläuferInnen“ von einem ins andere Lager. Die neuen sozialen Medien verstärken diese Zementierung der Verhältnisse ohnehin immer weiter. JedeR bewegt sich nur noch in den Bubbles und Chatgruppen der eigenen Überzeugung. Und wenn die jeweils andere Gruppe wahrgenommen wird, dann führt das bestenfalls zu Hass-Postings.
Ich vermute, dass fast jedeR von uns irgendwo im Familien- oder Freundeskreis diese Spaltung erlebt und darunter leidet. Ich jedenfalls schon. Nachdem das eine Lager etwa zwei Drittel und das andere etwa ein Drittel der Bevölkerung umfasst, wäre es sehr verwunderlich, wenn jemand keinen einzigen Menschen des anderen Lagers in seiner Nähe hat. Und die Spaltung ist tief. Geimpfte scheuen sich, Ungeimpften zu begegnen, besonders wenn sie zu einer Risikogruppe gehören, weil sie sich nicht anstecken wollen. So entstehen jahrelang große Distanzen – man begegnet sich nur noch über Facebook oder das Telefon. Tabuthemen stehen im Raum, die nicht angesprochen werden können und doch permanent in den Köpfen der Menschen da sind. Das lähmt die Kommunikation – wir begegnen einander nicht mehr locker und frei. Beziehungen verkümmern und erstarren auf diese Weise. Ihre Lebendigkeit und Natürlichkeit ist verloren.
So bekommen einige Sätze des Evangeliums neue Bedeutung, die wir vermutlich alle lange Zeit als fern von unserer Wirklichkeit erachtet haben: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.“ (Mt 10, 34-36) Damals also, zur Zeit der Evangelien, war es die Botschaft Jesu, die mitten durch die Familien hindurch Spaltungen hervorrief. Nicht dass Jesus das gewollt hätte. Aber wenn eine pointierte religiöse Botschaft verkündet wird, dann lässt sich das wohl nicht vermeiden. Heute ist es nicht Jesus, der spaltet, sondern ein winziges Virus. Der Effekt ist jedoch derselbe.
So traurig diese Analyse ist: Die Spaltung wird sich erst überwinden lassen, wenn die Pandemie zu Ende gegangen ist. Es wird dann eine lange Phase der Versöhnung und Heilung brauchen, mit intensiver Unterstützung durch die „Versöhnungs-Profis“: PsychologInnen, SozialpädagogInnen, Beratungseinrichtungen… und letztlich auch das Seelsorge-Personal. Wir alle, die wir zu diesen Berufsgruppen gehören, sollten uns schon einmal darauf gefasst machen. Pfarreien und Einrichtungen sollten schon jetzt überlegen, was sie am „Freedom Day“, dem Tag eins nach Corona, als Versöhnungshilfe anbieten können. Und wir alle, die wir die Pandemie erleben müssen, sollten uns dafür öffnen, nach der Pandemie professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um die ersten Schritte aufeinander zu gut gehen zu können. Ohne Hilfe, da bin ich sicher, wird es nur in seltenen Fällen gelingen.
Da kommt also noch allerlei auf uns zu. Aber es ist absehbar, und das gibt uns die Chance der Vorbereitung. In diesem Sinne grüßt euch/ Sie alle in adventlicher Hoffnung,
Michael Rosenberger