Liebe PilgerInnen auf dem Weg ins Weite,
in den vergangen Tagen haben vor allem die Schlachtbetriebe Schlagzeilen gemacht. Osteuropäische ArbeiterInnen, die auf engstem Raum zusammengepfercht leben, oft nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn gezahlt bekommen und keine Sozialversicherung haben – diese Zustände sind seit mindestens 20 Jahren bekannt, ich habe sie oft in meinen Vorträgen angeprangert. Aber die Behörden trauen sich nicht, genauer hinzuschauen – zu mächtig ist die Lobby der Fleischindustrie. Außerdem geht es nicht nur den ArbeiterInnen so, sondern auch den Tieren in der Massentierhaltung. Es ist eine Schande! Nur damit wir EndverbraucherInnen die jährliche Fleischmenge von 60 bis 65 Kilogramm pro Person billig konsumieren können, nehmen wir unsägliche Bedingungen für Mensch und Tier in Kauf. Sage bitte niemand, er oder sie habe es nicht gewusst. Jetzt werden die menschenverachtenden Methoden zum Gesundheitsrisiko für alle. Wir können nur hoffen, dass der Staat endlich wirksam kontrolliert und einschreitet. Denn sonst rutscht die Branche nach einer kurzen Schampause wieder ins alte Fahrwasser zurück und macht weiter wie zuvor. Ob man allerdings die Situation der Tiere ebenfalls verbessern wird, ist zu bezweifeln. Sie sind ja keine Überträger des Coronavirus…
Doch nun zum eigentlichen Thema für die nächsten Wochen: 2017 hat der US-amerikanische Historiker Kyle Harper ein Buch geschrieben, das pünktlich zur Corona-Krise in deutscher Übersetzung erschien: „Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reichs“ (München 2020, englisch The Fate of Rome. Climate, Disease and the End of an Empire, Princeton 2017). Der deutsche Untertitel unterschlägt bedauerlicherweise die Hälfte der Botschaft. Statt Klima und Pandemie wird nur das Klima für das Ende des Römischen Reichs verantwortlich gemacht. Eine grobe Verkürzung dessen, was Harper zu sagen hat.
Harper zeigt, dass die Bevölkerung im Römischen Reich ihren Höchststand um die Mitte des 2. Jh. n.Chr. hatte und rund 75 Millionen Menschen betrug. Die Lebenserwartung der Bevölkerung im Römischen Reich war dennoch selbst für damalige Verhältnisse außerordentlich niedrig und lag über die Jahrhunderte relativ konstant nur bei 20 bis 30 Jahren, und zwar bei Armen und Reichen gleichermaßen und selbst bei den Kaisern. Das war deutlich weniger als vor und nach der Römerzeit und auch weniger als bei den Nachbarvölkern außerhalb des Römischen Reichs. Dass die Bevölkerung über lange Zeiträume dennoch wuchs, lag einzig an der überdurchschnittlich hohen Geburtenrate im Reich, die seit Kaiser Augustus staatlich gefördert wurde. Außerdem waren die BewohnerInnen des Römischen Reichs erheblich kleiner als ihre Nachbarn außerhalb des Reichs.
Woher kamen diese niedrige Lebenserwartung und diese geringe Körpergröße? In der gesamten Zeit des Römischen Reichs gab es bis 240 n.Chr. nie eine großflächige Lebensmittelknappheit. Im Gegenteil, die Lebensmittelversorgung war fantastisch. Das Reich war zudem geprägt von einer einzigartigen Urbanisierung – es gab über 1000 Städte, darunter Dutzende mit über 100.000 EinwohnerInnen. In den Städten lebten rund 20 Prozent der Menschen, also 15 Millionen. Eine vergleichbare Blüte der Gesellschaft gab es bis zur Neuzeit nicht mehr. Schlüssel dafür waren einerseits der systematische Einsatz der neuesten Technologien (die die Römer kaum selbst entwickelten, sondern aus anderen Kulturen kopierten und flächendeckend verbreiteten) und andererseits der globale Handel (mit einem Netz von Banken und einem ausgeklügelten Geldsystem, mit hochentwickelter Transportinfrastruktur und großen städtischen Einkaufszentren; ein kritischer Reflex darauf findet sich in Offb 18,11-13).
Um 650 n.Chr. war die Bevölkerung des Mittelmeerraums jedoch von 75 Millionen auf die Hälfte geschrumpft, Rom selbst von einer Million auf 20.000 EinwohnerInnen. Es ist der größte einzelne Rückfall der Bevölkerungszahlen in der gesamten Menschheitsgeschichte. Bisher nahm die Geschichtswissenschaft an, dass er der „spätrömischen Dekadenz“ (Guido Westerwelle) geschuldet sei. Man dachte, die ökologischen Rahmenbedingungen seien in dieser Epoche konstant gewesen – ein folgenschwerer Irrtum. Denn die umwelthistorischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte zeichnen ein völlig anderes Bild:
- Das Klima befand sich von 200 v.Chr. bis 150 n.Chr. im sogenannten „Römischen Klimaoptimum (RCO)“: Es war mit außerordentlicher Konstanz warm und feucht. Auf eine sehr wechselhafte Übergangsperiode von 150 bis 450 n.Chr. folgte dann von 450 bis 700 n.Chr. die sogenannte spätantike kleine Eiszeit. Es handelte sich um die kälteste Zeitspanne der letzten 12000 Jahre. Auf die klimatisch günstigste Epoche der letzten Jahrtausende folgte also (damals noch ohne Zutun des Menschen) die klimatisch ungünstigste.
- Das sich verschlechternde Klima wurde begleitet von einer Häufung pandemischer Infektionskrankheiten, die in der römischen Kultur ideale Verbreitungsbedingungen vorfanden: Auf vielbefahrenen Handelsrouten von China über Indien nach Rom konnten sich die Erreger wunderbar ausbreiten – und sie kamen schon damals meistens aus China. Waren die Erreger dann im Römischen Reich angekommen, bildeten dessen dicht bevölkerten Städte optimale Infektionsherde. Schließlich trug die systematische Rodung der Wälder im gesamten Mittelmeerraum das Ihre bei, weil offene Flächen den Überträgerinsekten wie Anopheles (für Malaria) oder Floh (für das Pestbakterium) perfekte Bedingungen bieten. So zählt man heute drei Pandemien: 161 bis 166 die „Antoninische Pest“ (benannt nach dem zu Beginn regierenden Kaiser Antoninus Pius, mit ziemlicher Sicherheit eine Pocken-Pandemie) mit über 7 Millionen Toten, ab 249 die „Cyprianische Pest“ (benannt nach Bischof Cyprian von Karthago, sehr wahrscheinlich eine Ebola-Pandemie) mit zwanzig bis dreißig Millionen Toten und ab 541 die „Justinianische Pest“ (benannt nach dem oströmischen Kaiser Justinian, eine klassische Beulenpest) mit mindestens 35 Millionen Toten.
Der Zerfall des römischen Reichs ist also, so Harpers Kernthese, keine Folge „spätrömischer Dekadenz“, sondern immer größerer ökologischer Belastungen, aus denen das Reich zunächst jeweils mit einer Reorganisation hervorgeht (was seine hohe Resilienz beweist), von denen es aber langfristig immer stärker erodiert wird und schließlich zerfällt. Harpers Buch macht damit klar: Der „Triumph“ der Menschheit im 21. Jh. steht auf tönernen Füßen. Von geschätzt einer Billion Mikrobenarten haben nur 1400 Krankheitspotenzial für den Menschen – die anderen sind harmlos oder sogar nützlich. Aber die globalisierte Welt mit ihrer extrem gestiegenen Mobilität, den riesigen Ballungsräumen und obendrein noch der anthropogenen Klimaerwärmung macht die 1400 brandgefährlich. Wir sind den Römern näher als wir denken.
So bleibe ich mit nachdenklichen Grüßen,
Michael Rosenberger