Liebe geduldig Ausharrenden in diesen Zeiten,
immer lauter und zahlreicher werden die Stimmen derer, die auch über Weihnachten und Silvester strengere Einschränkungen fordern, und sie haben die Infektionszahlen als kräftiges Argument auf ihrer Seite. Es scheint, als würden wir nicht anders ins neue Jahr kommen, ohne die Krankenhäuser zu überlasten. Da wird uns viel zugemutet. Andererseits ist Weihnachten immer schon jenes Fest gewesen, an dem wir am meisten Hausliturgie praktiziert haben. Das Singen und Musizieren, Beten und Lesen der Bibel oder mancher Weihnachtsgeschichte gehört für viele, ja für die meisten ohnehin zum Fest. Das gibt uns eine gute Basis für den Fall, dass die Weihnachtsgottesdienste ausfallen oder auf ein Minimum reduziert werden müssen. Der Trost ist ja in jedem Fall, dass das nächste Weihnachten wieder ziemlich normal stattfinden dürfte. Die Durststrecke hat also ein Ende, und das ist absehbar. Wenn es auch nicht morgen oder übermorgen ist.
Wie schon die letzten beiden Samstage betrachte ich auch heute die alttestamentliche Lesung des morgigen 3. Adventssonntags. Wer will, kann alle liturgischen Texte hier nachlesen:
https://www.erzabtei-beuron.de/schott/schott_anz/index.html?datum=2020-12-13
ERSTE LESUNG: Jes 61, 1-2a.10-11
Lesung aus dem Buch Jesaja
Der Geist GOTTES, des Herrn, ruht auf mir. Denn der HERR hat mich gesalbt; er hat mich gesandt, um den Armen frohe Botschaft zu bringen, um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung auszurufen und den Gefesselten Befreiung, um ein Gnadenjahr des HERRN auszurufen.
Von Herzen freue ich mich am HERRN. Meine Seele jubelt über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt. Denn wie die Erde ihr Gewächs hervorbringt und der Garten seine Saat sprießen lässt, so lässt GOTT, der Herr, Gerechtigkeit sprießen und Ruhm vor allen Nationen.
Wort des lebendigen Gottes
Während die Lesung des vergangenen Sonntags vom zweiten Jesaja stammt, ist die heutige Lesung vom dritten Jesaja. Zwischen den beiden liegen nur wenige Jahre, vielleicht auch ein oder zwei Jahrzehnte. Mehr aber nicht. Der zweite Jesaja hört vom Nahen des Perserkönig Kyrus, der das Babylonische Reich erobert und die von den Babyloniern verschleppten Völker nach Hause zurückkehren lässt. Der dritte Jesaja tritt auf, als Babylon schon erobert ist und die Gefangenen Jerusalems zumindest freigelassen, vielleicht sogar nach Hause zurückgekehrt sind. Was für den zweiten Jesaja noch unmittelbar bevorsteht, ist für den dritten Jesaja Wirklichkeit geworden.
Die Rückkehr der JerusalemerInnen aus Babylon war zweifelsohne eine überwältigend frohe Erfahrung. Aber nach der Rückkehr kam es schon bald ziemlich dicke. Die Stadt war verwüstet, die gesamte Umgebung auch. Alles lag in Trümmern, die Obst- und Olivenbäume, die Jahrzehnte zum Wachsen brauchen, waren von den Babyloniern umgehauen worden, die Äcker von Dornengestrüpp überwuchert. So manche der Rückkehrenden werden verzweifelt gewesen sein. Der dritte Jesaja muss ihnen viel Mut zusprechen. Und er tut es mit dem Verweis auf das „Gnadenjahr“. Das meint das Jobeljahr aus Lev 25,10. In diesem alle 50 Jahre stattfindenden Jahr sollten alle Israeliten, die aufgrund einer finanziellen Notlage ihr Grundstück verkauft hatten oder zu Schuldsklaven geworden waren, ihr Land und ihre Freiheit zurückerhalten. So wurde ihre Notlage beendet und sie konnten neu beginnen. Wir nicht wissen, ob diese Vorschrift der Tora je umgesetzt wurde. Aber der dritte Jesaja sieht das ganze Volk wie solche Menschen im Jobeljahr. In der trostlosen Zeit nach der Rückkehr aus Babylon kündigt er ein umfassendes Ende aller Nöte und den Beginn der endgültigen Heilszeit an, die er dann ausführlich schildert. Er gibt dem Volk eine Hoffnung, mit der sie das Land wieder aufbauen können. Fast ist es wie der Wiederaufbau Deutschlands nach dem II. Weltkrieg. Die Perser haben dann in etwa die Rolle der Amerikaner – sie fördern die Wirtschaft und bemühen sich um Integration.
Auf die Perser, die dem Volk Israel weitgehende Autonomie gaben, folgen 200 Jahre später mit dem Sieg Alexanders des Großen gegen den Perserkönig Darius 333 v.Chr. bei Issos die Griechen. Sie wollen den Israeliten mit zunehmender Gewalt ihre eigene Kultur aufzwingen – bis dahin, dass sie im Jerusalemer Tempel eine griechische Götterstatue aufstellen. In Reaktion darauf bildet sich ein jüdischer Terrorismus aus, der die griechische Herrschaft mit brutaler Gewalt abzuschütteln versucht – vergeblich. 64 v.Chr. schließlich übernehmen die Römer die Herrschaft in Palästina. Ihre Strategie ähnelt der der Perser – sie lassen dem jüdischen Volk viel Autonomie. Zeitweise darf es sogar einen eigenen König haben. Vor allem aber respektieren die Römer uneingeschränkt die Religionsfreiheit der JüdInnen. Der Tempel ist für sie ein unantastbares Areal, nie wären sie in diesen militärisch eingedrungen wie die Griechen. Kaiser Augustus finanziert sogar die Tempelerneuerung durch seinen Schulfreund, König Herodes, so dass der Jerusalemer Tempel zum prächtigsten Heiligtum der damaligen Welt aufsteigt. Roms einziges Interesse ist die Wirtschaft – solange die funktioniert, ist man zu vielen Zugeständnissen bereit. Aber viele JüdInnen trauen diesem Paradigmenwechsel nicht. Und so wird Israel zur Zeit Jesu zum größten Unruheherd im gesamten Römischen Reich.
Das Israel zur Zeit Jesu liegt also nicht wirtschaftlich am Boden, sondern politisch und moralisch. Nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft wissen die Menschen einfach nicht mehr, wem sie glauben können und wer es ehrlich mit ihnen meint. Sie sind ohne Orientierung. In dieser Situation tritt Jesus von Nazaret auf. Und so wie sich sein Vorbild und Lehrer Johannes der Täufer in den Worten des zweiten Jesaja wiederfindet, macht sich Jesus das Selbstverständnis des dritten Jesaja zu eigen. Als er in die Synagoge seiner Heimatstadt Nazaret geht und dort predigt, sagt er, nachdem er exakt unsere Lesung vorgetragen hat: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ (Lk 4,18-21) So also will er sein: Einer, der den Armen eine frohe Botschaft bringt und den Gefangenen Befreiung, der gebrochene Herzen heilt und ein Gnadenjahr ausruft. Ein Mutmacher für die Verzweifelten, ein Wegweiser für die Orientierungslosen.
Einen solchen Mutmacher und Wegweiser können auch wir gebrauchen, damit die Zeit der Pandemie zu einem Gnadenjahr werden kann. Und so lade ich ein, abschließend das Lied „Jerusalem, Jerusalem“ der Gemeinschaft Emmanuel zu singen. Wer es nicht kennt, kann es auf YouTube anhören:
https://www.youtube.com/watch?v=g8E5l2mLfD4&ab_channel=LingualpfeifealiasLudwigMartinJetschke
Dunkelheit bedeckt alle Völker der Welt, auf, Jerusalem, werde Licht! (2x)
Blick empor, schaue aus, beben soll dein Herz und sich öffnen weit.
Auf den Armen trägt man die Töchter herbei, deine Söhne kommen von fern.
[Refrain]
Jerusalem, Jerusalem, leg dein Gewand der Trauer ab!
Jerusalem, Jerusalem, singe und tanze deinem Gott!
Völker wandern hin, bringen Weihrauch und Gold, Herden von Kamelen sind dein. (2x)
Von weit her kommen sie, prachtvoll ist dein Glanz, deine Herrlichkeit.
Weihrauch steigt empor, weithin schallt Gottes Lob. Ruhmreich sind die Taten des Herrn.
[Refrain]
Jerusalem, Jerusalem, leg dein Gewand der Trauer ab!
Jerusalem, Jerusalem, singe und tanze deinem Gott!
Jubelt in der Stadt, alle die ihr sie liebt, fröhlich sollt ihr sein und euch freu'n! (2x)
„Stadt des Herrn“ nennt man dich, ewig leuchtet dir Gott der Herr als Licht.
Zion singe laut, denn dein König bringt dir Freudenöl statt Trauergewand.
[Refrain]
Jerusalem, Jerusalem, leg dein Gewand der Trauer ab!
Jerusalem, Jerusalem, singe und tanze deinem Gott!
So wünsche ich allen einen gesegneten dritten Adventssonntag „Gaudete“ – „Freuet euch!“
Michael Rosenberger