Liebe Weiterpilgernden in allen Rückschlägen,
in den letzten Tagen verdichten sich die Zeichen, dass wir vor den schwersten acht bis zehn Wochen der gesamten Pandemie stehen. Die Impfungen können noch keine Wirkung auf das Gesamtgeschehen entfalten, die englische Virusvariante breitet sich auch bei uns bedrohlich aus und trotz harten Lockdowns stagnieren die Zahlen, ja sie könnten wieder erheblich ansteigen. Obwohl wir wissen, dass die Situation sich im zweiten Quartal erheblich verbessern wird, hilft uns das gegenwärtig wenig. Viele Menschen und viele Wirtschaftsbetriebe stehen am Rande des Abgrunds und haben alle ihre Reserven aufgebraucht. Ich gebe zu, dass mit zum ersten Mal seit März richtig mulmig ist, wenn ich an die nächsten Wochen denke.
Im Moment geht es vermutlich noch immer erst einmal darum, zu verstehen, was da gerade passiert. Schon seit Oktober meldet sich in den Debatten über die angemessene Strategie im Umgang mit dem Coronavirus vermehrt die Mathematik zu Wort: In Deutschland zum Beispiel Viola Priesemann am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, in Österreich Niki Popper, der Koordinator des Forschungsprogramms COCOS (Centre for Computational Complex Systems) an der Technischen Universität Wien. WissenschaftlerInnen wie diese beiden modellieren die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus unter bestimmten Bedingungen. Und sie weisen dabei auf einen Punkt hin, den man gerne unterschätzt: Die exponentielle Vermehrungsdynamik des Virus.
Es gibt die berühmte Geschichte über den Erfinder des Schachspiels. Manche werden sie kennen. Sie geht so: Vor langer Zeit wurde in Indien das Schachspiel erfunden. Der Indische Kaiser Sheram wollte den Erfinder dieses Spieles, Zeta, unbedingt belohnen, da er großen Gefallen an dem Spiel gefunden hatte. Zeta sollte zur Belohnung einen Wunsch äußern und dabei nicht zu bescheiden sein. Dieser sagt darauf: „Gebieter, befiel, mir für das erste Feld des Schachbrettes 1 Reiskorn auszuhändigen, 2 Körner für das zweite Feld, 4 für das dritte und für jedes weitere Feld doppelt so viele Körner wie für das vorhergehende – bis zum letzten, dem 64. Feld.“ Der Kaiser fühlte sich gekränkt, da ihm das Ausmaß des Wunsches noch nicht bewusst war. Doch nachdem er auf das zehnte Feld bereits 512 Reiskörner legen musste, merkte er allmählich, dass die Erfüllung des Wunsches ungemütlich werden könnte. Und in der Tat: Auf das 64. und letzte Schachbrettfeld hätte der Kaiser 18 Trillionen Reiskörner legen müssen, das wären ungefähr 277 Milliarden Tonnen Reis. Es hätte dem 873-fachen der gesamten Welt-Reis-Ernte des Jahres 2006 entsprochen.
Die Legende verdeutlicht gut, was eine exponentielle Vermehrung bedeutet. Am Anfang merkt man lange praktisch gar nichts. Vom ersten bis zum zehnten Schachbrettfeld ist die Erfüllung des Wunsches für den Kaiser noch ein Kinderspiel. Aber danach steigt die Zahl der Reiskörner immer schneller an und erreicht schon beim 20. Feld atemberaubende Mengen. Und irgendwann muss der Kaiser kapitulieren – lange bevor das 64. Feld erreicht ist. Genau das haben wir in der Zeit von Juni bis Oktober erlebt. Lange Zeit waren die Zahlen extrem niedrig, und man merkte den Anstieg überhaupt nicht. Im Oktober erreichten die Zahlen aber ein Niveau, das man nicht mehr übersehen konnte. Nur war die Dynamik zu diesem Zeitpunkt bereits so massiv, dass sie nicht mehr zu stoppen war. Die Gesundheitsämter konnten die Infektionsketten nicht mehr nachverfolgen, die Kontrolle über die Ausbreitung des Virus war verloren. Eine geringfügig über 1 liegende Reproduktionsrate genügte jetzt, um das Chaos immer schlimmer werden zu lassen.
Die Folgerung liegt auf der Hand: Wissenschaftlich betrachtet hätte man deutlich früher einen zweiten harten Lockdown machen müssen. Und früher meint zu einem Zeitpunkt, als die Zahlen noch sehr, sehr niedrig waren. Aber das war genau das Problem: Wie hätte die Politik zu diesem Zeitpunkt die Bevölkerung von harten Maßnahmen überzeugen können? Jeder hätte gesagt, dass doch alles ganz harmlos sei und die Maßnahmen völlig überzogen. In Deutschland lässt sich dieser Konflikt zwischen Wissenschaft und Politik sehr gut personalisieren: Die Bundeskanzlerin und ihr Kanzleramtsminister vertraten konsequent die Position der Wissenschaft – aber die MinisterpräsidentInnen und die Bevölkerung standen auf der anderen Seite.
Leider waren die MathematikerInnen zu diesem Zeitpunkt noch viel zu leise. Und die JournalistInnen hörten ihnen auch nicht wirklich zu. Erst später wurde ihre Stimme lauter. Gemeinsam formulierten mehr als 300 angesehene WissenschaftlerInnen einen Appell an die europäische Politik. Die Kurzfassung in Deutsch findet sich hier: https://www.mpg.de/16196677/covid-19-corona-wissenschaft-europa. Wer den englischen Originalartikel mit der Liste aller UnterzeichnerInnen im Fachjournal The Lancet lesen möchte, findet ihn hier: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)32153-X/fulltext?fbclid=IwAR3SO1hvYsOLK8HPu_-Yrg_vARUyftB5TGVdxmUKYgeWObYnTPqpubSy6i8
Ganz kurz die Inhalte des Artikels: Ziel ist ein Maximum von sieben neuen Coronainfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche, und zwar in allen Ländern Europas. Das lässt sich nur durch einen harten Lockdown erreichen. Der dürfte allerdings nicht nach einer bestimmten Wochenzahl aufgehoben werden, sondern erst nach Zielerreichung. Dann hätte man wie im Sommer 2020 für viele Wochen Ruhe und könnte relativ lockere Coronaregeln zulassen. Nach drei bis vier Monaten müsste man die Zügel wieder für ein paar Wochen anziehen. Und hier plädieren die ForscherInnen dafür, nicht bis zum Erreichen einer Inzidenz von 200 oder mehr zu warten, sondern schon bei 35 oder maximal 50 Inzidenzen erneut radikal zurückzufahren. Denn je früher man wieder hart durchgreift, umso kürzer kann der Lockdown bleiben. Das Schachbrett lässt grüßen.
Im Detail geht die Rechnung (die noch ohne die englische Mutation gemacht wurde) ungefähr so: Ein harter Lockdown senkt die Reproduktionsrate ungefähr auf 0,7. Das bedeutet eine Halbierung der Neuinfektionen pro Woche. Wenn man bei 200 Neuinfektionen je 100.000 EinwohnerInnen und Woche beginnt, ist man nach einer Woche bei 100, nach zwei Wochen bei 50, nach vier Wochen bei 12,5 und nach 5 Wochen unter dem Zielwert 7, nämlich bei 6,25. Man bräuchte also beim Ausgangswert 200 fünf Wochen Lockdown. Wenn man dann unter Lockerungen die Reproduktionsrate bei 1,05 halten kann, was bei niedrigen Werten möglich ist, hat man 12 Wochen weitgehende Freiheit, bis man wieder an die 50er-Grenze stößt. Und wenn man dann rigoros wieder in einen harten Lockdown geht, kann man diesen auf 2-3 Wochen begrenzen, um wieder 12 Wochen Freiheit zu genießen. Wenn man die Werte aber über 50 steigen lässt, erhöht sich die Reproduktionsrate auf 1,2 oder 1,3, und dann ist man nach zwei weiteren Wochen bereits bei 200 Inzidenzen und mehr. Die Lage ist außer Kontrolle.
Das Ganze müsste nach Ansicht der WissenschaftlerInnen europäisch abgestimmt werden, weil die Grenzen eben nicht dicht sind – Millionen PendlerInnen überqueren täglich eine innereuropäische Grenze. Das hat man in den letzten Monaten in Sachsen gesehen, wo die hohen Infektionszahlen von tschechischen PendlerInnen importiert wurden, die in Sachsen arbeiten. Und jetzt exportiert Sachsen seinerseits das Virus weiter in die Nachbarbundesländer.
Erstaunlich und ermutigend finde ich es, dass das Konzept aus der Wirtschaft massiv unterstützt wird. Große Unternehmensverbände haben schnell erkannt, dass es auf mittlere Sicht wirtschaftlich viel günstiger ist, einige Wochen einen richtig harten Lockdown (härter als jetzt!) zu durchlaufen, wenn man danach halbwegs normal Wirtschaft treiben kann. Das Problem sind also eher Teile der Bevölkerung, die diese Mechanismen nicht verstehen und daher gegen harte Maßnahmen Stimmung machen. Und das ist vielleicht das einzig Gute an der Entwicklung seit Oktober: Nach der ersten Welle im Frühjahr konnten die Corona-LeugnerInnen noch sagen: Schaut her, es war doch alles ganz harmlos – wozu die ganze Aufregung? Nach der zweiten Welle geht das nicht mehr. Wir haben Spitzen von über hundert (Österreich) bzw. tausend (Deutschland) Toten pro Tag, Kliniken, die unter der Überlastung zusammenbrechen, vereinzelt sogar Triagen, weil nicht mehr alle PatientInnen einen Beatmungs- oder Intensivplatz bekommen können. Das sollte zumindest alle denkenden Menschen veranlassen, den Ernst der Lage zu erkennen, der uns sicher noch bis Mitte des Jahres begleitet. Und vielleicht wäre es doch wert, über den Vorschlag der MathematikerInnen gründlicher nachzudenken.
In diesem Sinne herzliche Grüße,
Michael Rosenberger