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Pilgern durch die Coronakrise - 15. Februar 2021

Liebe mehr oder weniger Fröhlichen in den Tagen des Faschings,
 
die Verlängerung des Lockdowns in Deutschland für einige weitere Wochen und die Abriegelung der Grenzen zu Tschechien und Tirol zeigen, auf welch wackligen Füßen wir derzeit in Europa stehen. Immer mehr Mutationen tauchen auf, deren genaue Übertragungsrate und Gefährlichkeit wir noch wenig kennen. Unsere Erschöpfung wächst und ein Ende des Tals der Tränen rückt in weite Ferne. Der Ruf nach Perspektiven wird immer lauter – aber wie sollen Perspektiven gegeben werden, wenn weder das Virus noch unser menschliches Verhalten berechenbar ist?
 
Eine Perspektive gäbe es, die freilich extrem ambitioniert ist. In den letzten Wochen ist eine Initiative mit vielen prominenten Persönlichkeiten entstanden: Zero Covid: zero-covid.org. Ihr Ziel ist ein europaweiter harter Lockdown, der so lange dauert, bis man bei NULL Infektionen angekommen ist – und lokal sofort wieder aktiviert wird, wenn auch nur EINE Infektion auftaucht. Dafür kann bei Erreichen des Ziels eine fast vollständige Freiheit eröffnet werden. – Natürlich wissen die InitiatorInnen, dass man alle Menschen gehörig motivieren müsste, damit sie dabei mitmachen. Denn das geht nur gemeinsam. Aber wenn man dem Ziel näher und näher kommt, so hoffen sie, wird der Ehrgeiz wachsen und den schwindenden Kräften Flügel verleihen. Solidarität heißt jetzt Lockdown, so die Idee, und nach Corona das Versprechen, ein solidarischeres Europa aufzubauen (man merkt, die meisten ProponentInnen stehen, obgleich großenteils keiner Partei angehörig, politisch eher etwas links der Mitte).
 
Gewiss denken jetzt viele: Das ist ja zu schön um wahr zu sein. Allerdings gibt es einige Länder, in denen genau das schon viele Monate gelungen ist. Eines von ihnen ist Neuseeland, das vom ersten Moment an genau so gehandelt hat wie von Zero Covid gefordert. Sehr trefflich beschreibt das der Artikel „So geht Lockdown“ von Verena Friederike Hasel, einer Deutschen, die mit ihrem Mann und drei kleinen Kindern in Auckland lebt, in der ZEIT vom 25. Januar 2021: www.zeit.de/gesellschaft/2021-01/corona-lockdown-neuseeland-no-covid-strategie-pandemiebekaempfung/komplettansicht 
 
Der Erfolg der neuseeländischen Methode ist beachtlich: Neuseeland gehört zu den Ländern, die weltweit die niedrigsten Zahlen von Corona-Toten haben – und das bei langen Perioden völliger Freiheit von irgendwelchen Restriktionen. Weihnachten und Silvester wurden völlig normal gefeiert, weil es einfach NULL Covid-Infizierte gab. Vor kurzem tauchte wieder EIN Infizierter auf (und analog übrigens auch beim Tennisturnier im australischen Melbourne)  – und sofort war die ganze Region im totalen Shutdown. Radikal – von jetzt auf gleich, ohne Vorankündigung. Total heißt auch: Nur Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Krankenhäuser arbeiten. Sonst darf nur im Home-Office gearbeitet werden oder überhaupt nicht. Das Leben steht still (einschließlich ALLER Verkehrsmittel, Bahnen ebenso wie PKW). Es besteht jenseits eines Kreises von einem Kilometer rund um die Uhr eine Ausgangssperre wie in Italien im Frühjahr. Dieser totale Lockdown endet erst, wenn die NULL erreicht ist. Aber wenn sie erreicht ist, gibt es praktisch keine Vorsichtsmaßnahmen mehr. Wozu auch?
 
Natürlich: Neuseeland ist wie Australien eine Insel und kann die Einreisenden viel besser kontrollieren. Deswegen müsste Europa bei einer Zero Covid-Strategie an einem Strang ziehen. Aber in Summe haben die Neuseeländer und Australier nur einen Bruchteil der IntensivpatientInnen und Toten Europas zu beklagen und hatten 2020 außerdem viel mehr normale Wochen und Monate ohne Einschränkungen. Die Strategie ist der unseren haushoch überlegen. Aber klage jetzt bitte niemand über die Uneinigkeit der EU oder über unsere nationalen Regierungen! Es geht um eine Mentalitätsfrage. Das macht Verena Friederike Hasel in ihrem Artikel sehr klar. In der Corona-Krise reagieren demokratische Regierungen so, wie sie erwarten, dass es die Menschen mittragen. Hasel schreibt: „Lange war ich der Auffassung, ich käme aus einem Land, wo Disziplin und Gehorsam in einem problematisch hohen Maße vorhanden seien, aber im Lockdown ist mir klar geworden, dass die Deutschen im Gegensatz zu den Neuseeländern und Australiern wahre Anarchisten sind.“
 
Und über die Zero-Covid-Bewegung schreibt Hasel: „Einer der meines Erachtens wichtigsten Sätze im No-Covid-Papier ist, dass man ein neues Narrativ finden müsse, das die Bevölkerung mitnehme und einbeziehe. Genauso ist es in Neuseeland geschehen, wo die Erzählung vom ‚Team der fünf Millionen‘ den Lockdown bestimmte. Alle Sportereignisse und jedes Vereinstraining waren verboten, da wurde eine neue Disziplin erfunden: das Virus niederringen.“ – Ein Team der fünf Millionen, also aller BürgerInnen des Landes, das ist ein genialer Slogan der neuseeländischen Ministerpräsidentin Jacinda Ardern. Er schweißt zusammen, fordert heraus und gibt das Gefühl, jedes Sinken der Infektionsrate sei wie ein Tor im Fußball. Und genau so haben die Neuseeländer das verstanden. Noch einmal Hasel: „An einem der ersten Tage, an denen die angepeilte Null wirklich realistisch erschien und eine Rückkehr zum normalen Leben in greifbare Nähe rückte, sah ich auf einem der ewig gleichen Spaziergänge einen Nachbarn. Er hob die Faust. ‚We did it‘, sagte er. Es fühlte sich an wie ein gemeinsamer Sieg.“
 
Diese letzten Sätze offenbaren einen kommunikativen Fehler, den die europäischen VirologInnen ebenso gemacht haben wie die PolitikerInnen. Gleich zu Beginn der Krise wurde immer wieder gesagt, dass die wärmeren Temperaturen das Virus zurückdrängen würden. Damit wollte man uns Hoffnungen auf bessere Zeiten machen – eine redliche und gute Absicht. Doch bis heute ist diese Behauptung wissenschaftlich völlig unbewiesen. Natürlich, in warmer Luft bilden sich beim Ausatmen weniger Tröpfchen. Auch halten sich die Menschen im Sommer mehr im Freien auf und sind durch die Sonneneinstrahlung wehrhafter gegen Infektionen. Aber ob das der große Faktor ist? Wenn es so wäre, müssten Länder wie Finnland viel schlechter dran sein als Länder wie Brasilien. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich selber glaube die Wetterthese seit Oktober 2020 nicht mehr. Denn da war es noch sehr warm – und trotzdem schnellten die Infektionszahlen bei uns dramatisch in die Höhe. – Das Fatale an der Wetterthese ist aber, dass sie in einem sehr frühen Stadium verbreitet wurde und sich als eine der ersten in unseren Köpfen festsetzte. Und damit war im Mai 2020 relativ klar, dass die gesunkenen Zahlen nicht unserem Verhalten zugeschrieben werden konnten, sondern vor allem dem Wetter. „We did it!“ Sagt der Neuseeländer. „Es ist das Wetter!“ Sagten wir. Wirklich tragisch. Denn wenn die Politik uns jetzt sagen will, dass es doch WIR sind und nicht das Wetter, muss sie gegen eine tiefsitzende Prägung ankämpfen, die sie uns ohne es zu ahnen am Beginn der Krise eingepflanzt hat.
 
„We did it!“ Ob wir EuropäerInnen trotz der initialen Fehlprägung noch einen solchen sportlichen Ehrgeiz entwickeln können? Ich träume davon! Aber derzeit schimpfen wir am liebsten über den schleppenden Fortgang der Impfungen… während in Neuseeland und Australien noch gar nicht geimpft wird – man nimmt sich Zeit für eine gründliche Prüfung der Impfstoffe. Zwischen uns und Neuseeland liegt leider eine halbe Weltumrundung.
 
In diesem Sinne grüßt
 
Michael Rosenberger