Liebe Mitpilgernde in Corona-Zeiten,
jetzt ist also Deutschland im harten Lockdown – während sich in Österreich schon jetzt andeutet, dass der Lockdown über den 7.12. hinaus hätte verlängert werden müssen. Die Zahlen steigen schon wieder, und das auf viel zu hohem Niveau. Es funktioniert einfach nicht mehr so reibungsfrei wie im Frühling. Viele sind erschöpft und werden etwas nachlässig, und eine kleine, aber letztlich zu große Minderheit verweigert die Kooperation zum Schutz aller. Ich fürchte es wird noch ein äußerst mühsamer Weg bis zum Wendepunkt der Pandemie werden. Da können die Impfungen, die in den nächsten Tagen beginnen, auch erst langfristig helfen.
Kaum ein Mantra wurde vor und während der zweiten Welle so oft wiederholt wie dieses: „Die Schulen dürfen auf keinen Fall geschlossen werden!“ Diese Position war nahezu unantastbar, und wehe jemand stellte sie in Frage. Selbst jetzt, wo in Deutschland alles heruntergefahren wird, bleiben die Schulen in Nordrhein-Westfalen und Hamburg offen. Nun ist es sicher richtig, auf die Kinder und Jugendlichen zu achten und alles dafür zu tun, dass sie gut durch die Pandemie kommen. Aber muss man sie deswegen vor allen Schwierigkeiten bewahren?
Während des ersten Lockdowns und unmittelbar danach entstand eine Studie der Universitätskliniken Leipzig und Mannheim, die den Umgang der verschiedenen Generationen mit Covid-19 untersuchte: Susanne Röhr/ Ulrich Reininghaus/ Steffi G. Riedel-Heller 2020, Mental and social health in the German old age population largely unaltered during COVID-19 lockdown: results of a representative survey, in: PsyArXiv, 15 July 2020, https://doi.org/10.31234/osf.io/7n2bm . Diese Studie brachte hochinteressante Ergebnisse zutage.
Trotz größerer gesundheitlicher Gefährdung war die psychische Situation älterer Menschen während des ersten Lockdowns extrem stabil und veränderte sich nicht. Und zwar unabhängig von der konkreten finanziellen und sozialen Lage der Befragten. Drei Gründe fanden die ForscherInnen dafür: 1) Viele der Befragten antworteten schlicht, sie hätten schon ganz andere Krisen weggesteckt – Krieg, Vertreibung und Flucht, die Not der Nachkriegszeit, das Zerbrechen der Ehe, das Sterben geliebter Angehöriger etc. Solche Widerfahrnisse hatten sie resilient gemacht, wie die Wissenschaft das nennt, also widerstandsfähig. 2) Ältere Menschen haben weniger Freundschaften und Bekanntschaften als jüngere, dafür aber reifere und stabilere, die in der Krise auf andere Weise gut fortgeführt werden können. Jüngere Menschen hingegen haben tausende „friends“, brauchen das Bad in der Menge, genießen es, jeden Samstagabend in der Disco neue Bekanntschaften zu machen. Das aber ist im Lockdown nicht möglich. Insofern begünstigte die Lebensweise der Älteren ihr Zurechtkommen mit dem Lockdown. 3) Von den älteren Menschen befürworteten rund 90 Prozent die von der Regierung gesetzten Maßnahmen – weit mehr als in der Gesamtbevölkerung – und es hilft natürlich, die Einschränkungen gut zu ertragen, wenn man sie als richtig anerkennt.
Ganz anders die Kinder und Jugendlichen: Sie reagierten mit deutlich höherer psychischer Belastung. Denn erstens haben sie noch nicht den weiten Horizont, um die Richtigkeit der Maßnahmen wirklich einzuschätzen. Zweitens sind die meisten ihrer Freundschaften noch nicht durch eine Zeit gegangen, in der kein direkter Kontakt möglich war, sind noch nicht gereift, gewachsen und durch dick und dünn zusammengeblieben. Drittens haben junge Menschen noch keine vorherigen Krisenerfahrungen, die sie resilient gemacht hätten. Insofern ist es bestens verständlich, dass die jungen Menschen es in der Pandemie schwerer haben.
Taucht da also eine weitere Ungerechtigkeit gegenüber der jüngeren Generation auf, zusätzlich zum Abwälzen des Klimawandels und der Corona-Staatsverschuldung auf sie? Auf den ersten Blick mag das so scheinen. Genau besehen jedoch warnen uns die Ergebnisse der Leipzig-Mannheimer Studie davor, den Kindern und Jugendlichen den Corona-Stress ersparen zu wollen. Denn damit würden wir ihnen die wichtige Gelegenheit nehmen, selber aus einer Krisenerfahrung resilienter zu werden. Wir Menschen brauchen Erfahrungen, die uns an die Grenze unserer Belastbarkeit führen – und manchmal auch darüber hinaus. Daran wachsen und reifen wir und werden zu der Persönlichkeit, die wir sind. Die Psychologie nennt Krisen wie Corona „Stress-Impfungen“. Es sind nicht Impfungen für den Körper, sondern für die Seele.
Natürlich ist es wie bei Körperimpfungen: Es gibt die Gefahr von Nebenwirkungen. Kleinen, die wir schnell überwunden haben, in seltenen Fällen aber auch großen, die uns schwer und dauerhaft belasten. Unsere Verantwortung als erwachsene BegleiterInnen junger Menschen ist es daher, die jungen Menschen so zu begleiten, dass ihnen die Seelenimpfung nicht erspart wird, aber zugleich schwere und dauerhafte Kollateralschäden nach Möglichkeit vermieden werden: Durch unsere Verlässlichkeit, als AnsprechpartnerInnen und BegleiterInnen immer da zu sein, wenn wir gebraucht werden; durch direkte Rückenstärkung der Kinder und Jugendlichen in den Mühen des Corona-Alltags; durch Gespräche, die das Verständnis der jungen Menschen erweitern; durch das Vorbild an Zuversicht, Geduld und Demut, das wir Erwachsenen den Jugendlichen geben; und durch unser Mitgefühl in den Höhen und Tiefen dieser Monate.
Im Vergleich zu dieser Aufgabe, die wir Erwachsene alle miteinander haben und nicht nur LehrerInnen oder Eltern, ist die Frage der Schulschließungen fast nebensächlich. Manchmal mag sie fast zu einer Feigenblatt-Debatte werden. Wir sind es den jungen Menschen nicht schuldig, ihnen alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Sondern sie auf ihrem Weg über diese Hindernisse zu begleiten. Wenn wir das tun, dürfen wir ihnen auch zutrauen, dass sie gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen. Vielleicht werden sie dann in einer Krise in 50 Jahren so wie die heute Alten sagen: Wir haben schon ganz andere Krisen im Leben gemeistert!
In diesem Sinne grüßt euch/ Sie
Michael Rosenberger