Liebe Wandernden auf dem Weg zur Krippe,
immer stärker kommt derzeit die neue Omikron-Variante in den Blick. Vermutlich wird sie schon bald die dominierende Form des Coronavirus bei uns sein. Aber was ist von ihr zu halten? Ein außerordentlich informatives Gespräch dazu hat Prof. Dr. Christian Drosten gegeben. Wer es anhören möchte, findet es hier: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Drosten-im-Corona-Podcast-Risiko-fuer-Ungeimpfte-koennte-mit-Omikron-steigen,coronavirusupdate224.html
In aller Kürze fasse ich die wesentlichen Inhalte zusammen: Im südlichen Afrika könnte die Pandemie aufgrund der Omikron-Variante bald zu einer (allerdings dauerhaften) Endemie schrumpfen. Denn fast alle Menschen sind durch eine frühere Covid-Erkrankung bereits gegen die bisherigen Corona-Varianten immunisiert. Nun ist Omikron zwar in der Lage, sie trotzdem zu infizieren und erkranken zu lassen, aber nur abgeschwächt und mit geringerer Reproduktionsrate. Daher könnte die Pandemie im südlichen Afrika womöglich schneller zu Ende gehen als bei uns in Europa.
Dennoch warnt Drosten eindringlich davor, den südafrikanischen Weg in Europa zu imitieren und die Durchseuchung der Nichtgeimpften laufen zu lassen. Denn das würde extrem hohe Zahlen von schwer Erkrankten und Toten bedeuten. Unser Gesundheitssystem bräche zusammen. Omikron infiziere vor allem Kinder und junge Menschen – teils mit sehr schweren Verläufen. Für Europa sei die Durchimpfung daher der einzige vernünftige Weg. Dreifach Geimpfte seien gegen Omikron ziemlich gut geschützt.
Es deutet sich an, dass Omikron sich wirklich rasend schnell ausbreitet. Drosten geht davon aus, dass Omikron von Januar bis zur Jahresmitte 2022 die dominierende Variante des Coronavirus sein wird. Das könnte eine neuerliche Welle im Februar bedeuten – mit allen Befürchtungen, die wir aus den vorangehenden Wellen kennen. Es stehen also schwere Monate bevor. Mitte nächsten Jahres dürften dann angepasste Impfstoffe bereitstehen. So ganz schnell werden wir aus dem Impfen also nicht herauskommen…
Mein heutiges Thema ist die Frage einer allgemeinen Impfpflicht. Ist diese strategisch der richtige Weg? Ist sie moralisch begründbar? Dem will ich im Folgenden ausführlich nachgehen. Und dazu beginne ich mit einer wissenschaftlichen Studie aus den USA zur Frage, ob und wie man impfunwillige weiße Evangelikale davon überzeugen kann, sich impfen zu lassen (Persuading US White evangelicals to vaccinate for COVID-19: Testing message effectiveness in fall 2020 and spring 2021 | PNAS). Man schickte zu einigen Tausend von ihnen Personen, die ihnen in einem Gespräch jeweils eine andere aus einem Set sehr unterschiedlicher Botschaften nahebringen sollten. Folgende Botschaften wurden kommuniziert:
- Eine „Placebo-Botschaft“, die nichts mit dem Impfen zu tun hatte (um zu kontrollieren, ob vielleicht schon ein freundliches Gespräch ausreicht, die Impfunwilligen zum Impfen zu bewegen)
- Impfen ist Ausdruck sozialer Verantwortung und der Fürsorge für andere!
- Nicht geimpft zu sein bedeutet das Risiko, dass du andere ansteckst und dich dann schämen musst! Stell dir vor, das passiert dir!
- Sich nicht impfen zu lassen ist rücksichtslos und alles andere als mutig!
- Durch das Impfen erhalten wir unsere Freiheit zurück, weil die Restriktionen enden!
- Vertrau der Wissenschaft!
- Die Ärzteschaft unterstützt das Impfen!
- Auch Donald Trump hat sich impfen lassen!
Nun gab es zwei ein halbes Jahr auseinanderliegende Versuchszeitpunkte. Die meisten Botschaften hatten zu keinem der beiden Zeitpunkte auch nur irgendeine nennenswerte Wirkung. Während jedoch die Kombination aus den Argumenten (2) + (3) im Herbst 2020 bei etwa einem Drittel der Versuchspersonen eine signifikante Wirkung hatte (sie sagten, dass sie sich impfen lassen werden, sobald die Impfung da ist, und wollten auch Freunde davon überzeugen), war diese im Frühjahr 2021, als die Impfung da war, vollständig verschwunden. Von den im Frühjahr 2021 Impfunwilligen ließ sich praktisch niemand mehr zum Impfen überzeugen.
Die AutorInnen der Studie warnen vor vorschnellen Schlüssen. Aber auch mit großer Vorsicht wird man sagen können, dass Überzeugungsversuche bei Impfunwilligen kaum erfolgreich sein dürften. Auch wird man wohl sagen müssen, dass man die wirklich Impfunwilligen durch Gespräche von Tag zu Tag weniger überzeugen kann. Wenn jetzt also immer wieder zu hören ist, man solle doch Impfunwillige im Gespräch zu überzeugen versuchen, ist das bestenfalls naiv, wissenschaftlich betrachtet vermutlich sogar ignorant.
Und genau das ist es ja, was wir erleben. Die Impfaufrufe von Papst und Bischöfen bewirken bei den Nichtgeimpften ebenso wenig wie die Aufrufe des österreichischen und des deutschen Bundespräsidenten. Sie bestärken eher die Geimpften darin, dass sie das Richtige getan haben. Das ist nicht unwichtig, aber eben doch nicht ausreichend. Wir müssen uns also eingestehen, dass ohne Sanktionen kein größerer Impffortschritt mehr zu erreichen ist. Sanfte Sanktionen wie die 2-G-Regel für den Zutritt zu allen nicht lebensnotwendigen Einrichtungen oder der „Lockdown für Ungeimpfte“ haben eine begrenzte Steigerung der Impfquote gebracht. Sie haben gewirkt, aber nicht genug. In Österreich ist die Impfquote der Gesamtbevölkerung um einige Prozent angestiegen, in Deutschland etwas mehr, doch nicht hinreichend, um das Ziel zu erreichen. Deswegen wird wohl keine Alternative zur allgemeinen Impfpflicht bleiben, wenn wir eine annähernde Herdenimmunität erreichen wollen.
Doch auch wenn die Impfpflicht strategisch als letztes Mittel bleibt, ist sie ethisch verantwortbar? Darf man so stark in das Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung eingreifen? Hier muss man zunächst einmal zurechtrücken, dass in der Frage der Impfung niemand allein über seinen eigenen Körper entscheidet. Jeder Mensch entscheidet hier auch über die Körper und die Gesundheit vieler anderer mit. Das theoretische Konstrukt, dass hier jede Person ganz für sich alleine entscheiden kann, ist also nicht mehr als graue Theorie. Wir können gar nicht anders, als über den Körper anderer mitzuentscheiden. Daher relativiert sich das Grundrecht doch erheblich.
Zudem entscheidet die Frage der Impfung jedes Menschen mit über die schnellere Bildung weiterer Varianten, denn je mehr das Virus zirkuliert, umso schneller kommen neue Varianten. Und schließlich entscheidet die Impffrage maßgeblich über den Zustand in unseren Krankenhäusern und Intensivstationen. Hier kommt das Gemeinwohlprinzip ins Spiel, eines der vier bzw. fünf Grundprinzipien der katholischen Soziallehre. Im Konfliktfall zwischen Einzelwohl und Gemeinwohl, so besagt es, kommt dem Gemeinwohl der Vorrang zu, es sei denn, die Menschenwürde Einzelner würde dabei verletzt.
Nun mag man überlegen, ob ein Impfzwang, wenn also jemand mit Polizeigewalt zum Arzt gefahren, dort gefesselt und dann geimpft wird, eine Missachtung der Menschenwürde ist. Aber eine Impfpflicht, deren Nichtbeachtung Geldbußen und ggf. die Kündigung durch den Arbeitgeber nach sich zieht, ist etwas anderes. Hier darf man ruhig annehmen, dass das Gemeinwohlprinzip korrekt angewendet wird – und laut VerfassungsjuristInnen übrigens auch verfassungsgemäß.
Das Problem ist freilich, dass die Gemeinwohlorientierung der BürgerInnen in den letzten Jahrzehnten kaum eingefordert worden ist. Selbst die Wehrpflicht und alternativ die Zivildienstpflicht wurden in Deutschland aufgehoben, die zumindest die männliche Hälfte der Bevölkerung auf ein Jahr oder 15 Monate Gemeinwohlengagement verpflichteten. Eine einzige Ausnahme gab und gibt es, in der das Gemeinwohl dramatische Einschränkungen des Einzelwohls fordert: Die Klimaerwärmung. Aber auch da hat es bislang nicht funktioniert – die Weltgemeinschaft emittiert mehr Treibhausgase denn je. Im Zeitalter eines gnadenlosen Individualismus tun wir uns schwer, eigene Interessen zugunsten der Allgemeinheit zurückzustellen. Das fällt uns jetzt in der Pandemie auf die Füße.
Theoretisch könnte die Impfpflicht hier ein befreiender Wendepunkt werden – wenn sie denn von den Ungeimpften als sanfter Schubser verstanden wird, sich einen Ruck zu geben. Ob das geschehen wird, steht dahin. Aber zumindest für die Zweifelnden wäre das meine große Hoffnung.
Wer sich mit dem Thema Impfpflicht noch mehr beschäftigen will, kann dies übrigens hier tun: https://diesseits.theopodcast.at/streitfall-impfpflicht-theologie-covid Die moraltheologischen KollegInnen, so kann man in dem Podcast hören, sind durchaus nicht alle einer Meinung. Für das Impfen sind sie alle – bei einer Impfpflicht haben manche Zweifel.
Noch eine Anmerkung in eigener Sache: Nächsten Samstag ist Weihnachten – da werde ich niemanden mit einem zusätzlichen Rundbrief beschweren. Aber ich habe fest vor, mich vor Jahresende noch einmal zu melden. So wünsche ich zunächst einmal euch/ Ihnen allen gesegnete weihnachtliche Festtage, viel Freude und Zuversicht durch das Feiern und die Begegnungen, auch wenn alles schon zum zweiten Mal schmaler ausfallen muss als wir es gewohnt waren.
Herzliche Grüße,
Michael Rosenberger