Liebe WegbegleiterInnen durch die Corona-Krise,
da bin ich wieder. Exakt fünf Monate nach meinem letzten Rundbrief melde ich mich mit neuen „Gedanken in der Krise“ zurück. Viele haben mich in den letzten zwei bis drei Wochen bereits gefragt, wann ich angesichts der steigenden Infektionszahlen und der immer weiter verschärften Maßnahmen wieder zu schreiben beginne. Und in der Tat habe ich bereits seit Anfang Oktober überlegt, wann der richtige Moment zum erneuten Aufgreifen dieses Forums ist. Meinen bislang letzten Rundbrief hatte ich zu Pfingsten geschickt – zu Allerheiligen kommt hiermit der nächste. Damit spannt sich ein Bogen zwischen zwei bedeutenden Festen des Kirchenjahrs. Die Friedhofsgänge fallen heuer coronabedingt aus und machen uns schmerzlich bewusst, wo wir im Verlauf der Pandemie stehen: Ziemlich weit unten und gehörig im Regen.
Ein paar Monate durften wir uns im Sommer entspannen, und auch wenn sich der Urlaub in einem begrenzten Radius abspielte, hat er sicher allen gut getan, die sich auf Reisen begeben haben. Doch seit September steigen die Zahlen in einer zuvor nicht gekannten Geschwindigkeit auf schwindelerregende Höhen an. Ja, ich weiß, wir dürfen die Zahlen von heute nicht mit denen vom Frühjahr vergleichen, weil damals viel weniger getestet wurde (das gebetsmühlenartige Caveat der Statistiker). Und doch ist mittlerweile wohl dem letzten klar geworden, dass die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Virus alles bisher Erlebte übersteigt und bislang durch keine Maßnahme der Regierungen wirksam gebremst werden konnte. Ehrlich: Das habe ich bis Anfang September in dieser Schärfe nicht erwartet. Und soweit ich sehe, geht es nicht nur mir so. Wir wurden und werden von Covid-19 förmlich überrollt.
Wie konnte es nur so weit kommen? Wo sind die Lücken in unseren Schutzmaßnahmen, die das Virus so gnadenlos ausnützen kann? Die Cluster (große Hochzeiten, Schlachthöfe, Saisonarbeitskräfte, freikirchliche Gottesdienste, UrlaubsrückkehrerInnen) sind es in den letzten Wochen kaum mehr. Dabei waren die relativ leicht zurückverfolgbar und damit die Infektionsketten abschneidbar. Außerdem machten sie über lange Zeit den Großteil der Infektionen aus. Jetzt hingegen hat Kanzlerin Merkel offen eingestanden, dass 75% aller Infektionen nicht mehr rückverfolgbar sind und im Dunkeln bleiben.
Es gibt nicht die eine Ursache für die jetzige Dynamik im Infektionsgeschehen. Und doch lässt uns unsere Beobachtung intuitiv eine Reihe von Faktoren erkennen, die das Ihre zur jetzigen Situation beitragen.
Klar war immer: Eine Null-Infektions-Strategie wäre tödlich, denn ihr Preis wäre der totale Stillstand. Eine gewisse Zahl von Infektionen müssen wir in Kauf nehmen, und das hat die Politik von Anfang an erkannt und ihrem Handeln zugrunde gelegt. Die Obergrenze wurde von den Kapazitäten des Gesundheitssystems her bestimmt: Den Gesundheitsämtern, den Krankenhäusern, den Intensivstationen. Aber derzeit laufen wir geradewegs auf deren völlige Überlastung zu.
Manche Lebensbereiche setzen wir bewusst dem Risiko aus, weil der menschliche Preis sonst zu hoch wäre: Schulen und Kindergärten sollen bewusst offengehalten werden, trotz vergleichsweise hoher Infektionsgefahr zumindest in den höheren Schulen. Auch der Amateursport sollte unbedingt möglich sein, obwohl in den Mannschaftssportarten zumindest auf dem Spielfeld keinerlei Hygieneregeln einhaltbar sind. Die Idee war, diese Infektionen in Kauf zu nehmen, dafür aber in anderen Bereichen umso vorsichtiger zu sein. – Vielleicht hat man die Dynamik des Virus dabei etwas unterschätzt. Eine Schülerin, die mit mir ein Interview für ihre „vorwissenschaftliche Arbeit“ (im letzten Jahr vor der Matura) führen will, schrieb mir vor wenigen Tagen, dass es in ihrer Schulklasse eigentlich dauernd Infektionen gab. Das Virus geht also in den Schulen eifrig herum, vermutlich oft unbemerkt. Ob man da nicht doch besser die Maskenpflicht im Unterricht einführen sollte wie in manchem deutschen Bundesland?
Nicht alle Einrichtungen nehmen die Anti-Corona-Vorschriften gleich ernst. Auch nicht alle Restaurants! Derzeit beteuern alle VertreterInnen dieser Branche, wie verlässlich sie sich an die Regeln halten, und für die überwiegende Mehrheit von ihnen stimmt das wohl auch. Aber eine Minderheit geht sehr lax damit um – dafür habe ich genügend Beispiele aus eigener Anschauung – und zieht die Mehrheit mit hinunter. Das Fatale ist eben, dass einige schwarze Schafe genügen, um das Virus groß und mächtig zu machen.
Dasselbe gilt natürlich auch für die einzelnen Menschen. Die Mehrheit hält sich wirklich gut an die Regeln und ist sehr achtsam unterwegs. Aber eine Minderheit verhält sich höchst riskant. Sei es aus Nachlässigkeit und Schlamperei, sei es aus Erschöpfung nach so vielen Monaten der Einschränkungen, sei es aus Leichtsinn und Überheblichkeit, sei es aus Fahrlässigkeit wider besseres Wissen oder sei es schließlich aus bewusster Aufsässigkeit und intendiertem Widerstand gegen die Vorschriften. Die Palette der Motivationen ist breit, und vermutlich wird jeder und jede selbst Beispiele für die verschiedenen Motive kennen.
Heute früh war ich auf dem Markt. Dort gilt schon lange die Maskenpflicht. Und die KäuferInnen haben sich zu 100% daran gehalten. Aber von den VerkäuferInnen liefen etwa ein Drittel (!) ohne oder mit heruntergezogener Maske herum. Obwohl sie ihren KundInnen relativ nahe kommen und obwohl sie mit unverpackten Lebensmitteln hantieren. Das ist für mich völlig unverständlich und unprofessionell. Denn im Gegensatz dazu halten sich die MitarbeiterInnen der großen Supermärkte wirklich peinlich genau an die Regeln. Normalerweise bin ich ein großer Verfechter des regionalen Einkaufs auf den Märkten. Aber gegenwärtig tun die dortigen AnbieterInnen alles, um mich vom Besuch der Märkte abzubringen.
Und hier wird meines Erachtens eine wichtige Schwachstelle des Corona-Managements deutlich: Im März und April waren auf dem Markt jeden Tag städtische Kontrollorgane unterwegs, die die Einhaltung der Regeln kontrollierten. Seit Mai habe ich diese Ordnungskräfte nicht mehr gesehen. Auch anderswo fehlen die Kontrolle und das Einfordern, das „Auf-die-Zehen-treten“, wenn jemand sich nicht an die Regeln hält. Das kann ein freundliches Aufmerksam-machen sein, wenn jemand nur unachtsam war. Es wird wohl aber empfindlicher sein müssen, wenn jemand aus Prinzip gegen die Regeln verstößt. Gestern Abend sagte eine junge Tirolerin in den Abendnachrichten, sie werde sich auch dann nicht an die Vorschriften halten, wenn diese nächste Woche verschärft würden. Meiner Meinung nach haben wir also kein Regeldefizit, sondern ein Vollzugsdefizit. Würden wir das beheben, könnte vermutlich manche Verschärfung unterbleiben. Und bleibt der Staat nach den Verschärfungen bei seiner mangelhaften Kontrollpraxis, wird sich wieder kein Erfolg einstellen.
Primar Privatdozent Dr. Bernd Lamprecht, Vorstand der Klinik für Lungenheilkunde am Kepler-Universitäts-Klinikum Linz, sagte gestern Abend im Fernsehen: „Wir müssen leider feststellen, dass das Prinzip Eigenverantwortung gescheitert ist.“ Wie recht er hat! Denn es gilt, soweit wir sehen können, für alle westlichen Demokratien. In Österreich sind die Zahlen zweieinhalb mal so hoch wie in Deutschland, in der Schweiz fünfmal so hoch, und in anderen europäischen Ländern noch höher. Überall läuft es auf einen Lockdown light zu oder dieser ist bereits in Kraft.
Wir gehen also unruhigen Zeiten entgegen. Aber zumindest einen Trost haben wir: Wir gehen nicht allein. Wir sind einander verbunden – und vielleicht spüren wir auch, dass unsichtbar noch jemand anders mit uns durch die Krise wandert. Einer, der uns nie verlässt.
In diesem Sinne wünsche ich euch/Ihnen alles Gute,
Michael Rosenberger