Liebe Pilgernde am Fest eines Abschieds (der JüngerInnen vom Auferstandenen),
damit mein PC morgen die gebührende Feiertagsruhe genießen kann, sende ich euch/ Ihnen die Mail zum Fest Christi Himmelfahrt schon heute Abend. – Je mehr die Öffnung der Restriktionen voranschreitet, umso weniger Rückmeldungen erreichen mich auf meine Rundmails. Vermutlich hat das den doppelten Grund, dass der Bedarf nach Austausch und Bestärkung geringer wird und dass das Alltagsleben weniger Zeit zum Schreiben lässt. Für mich sind beides gute Zeichen! Deswegen kündige ich schon heute, passend zum Himmelfahrtstag, das Ende meiner Rundmails für Pfingsten an. Die Mail zu Pfingsten wird – zumindest solange die Krise nicht wieder aufflammt – meine letzte Mail sein. In ihr werde ich dann auch ein paar Impulse geben, wie ihr/ Sie auf die Wochen seit dem Ausbruch der Pandemie zurückschauen und eine Art Zwischenbilanz ziehen könnt/ können. Heute aber unterbreche ich die historischen Überlegungen aus der Spätantike, um dem Fest Christi Himmelfahrt seine Bedeutung zu geben.
In den letzten Wochen haben unzählige Demonstrationen stattgefunden, bei denen Menschen sich auf ihre Freiheit beriefen und teilweise sehr aggressiv kundgetan haben, dass sie sich durch die staatlichen Vorsichtsmaßnahmen gegen das Coronavirus ihrer Freiheit beraubt sehen. Daher möchte ich am heutigen Feiertag Christi Himmelfahrt darüber nachdenken, was das eigentlich heißt: Freiheit. Und zwar sowohl im moralischen als auch im spirituellen Sinne.
Landläufig denken wir, Freiheit sei es, tun und lassen zu können, was wir wollen. Im äußersten Fall wird noch anerkannt, dass dabei die Freiheit anderer nicht eingeschränkt werden darf, was in Wirklichkeit gar nicht geht; nur eine unverhältnismäßige Einschränkung kann verhindert werden, aber dafür muss erst einmal geklärt werden, was unverhältnismäßig ist. In der Ethik hingegen bedeutet Freiheit, sich aus Einsicht an das Gesetz der Vernunft zu binden, wie Immanuel Kant es im Zeitalter der Aufklärung unübertrefflich formulierte. Frei ist, wer sich moralisch verhält. Denn nur er kann wollen, dass alle Menschen so handeln wie er selbst (Kants berühmter kategorischer Imperativ). Das ist doch ein signifikant anderes Freiheitsverständnis als das landläufige. Für Kant ist jemand, der einfach tut, wozu er Lust hat, unfrei. Denn er folgt einem unreflektierten Impuls anstatt einer reflektierten Vernunfteinsicht. Und noch unfreier ist derjenige, der einfach der Masse hinterherrennt und das tut, was alle tun.
Was Kant selbstverständlich voraussetzte, was aber heute kaum noch beachtet wird, ist jedoch, dass die eigene Freiheit immer durch die Natur begrenzt wird: Ein Blinder hat nicht die Freiheit zu sehen. Ein Gelähmter nicht die Freiheit zu gehen. Ein Kind hat nicht die Freiheit am Steuer eines Autos zu sitzen, und ein dementer Mensch ebenfalls nicht. Freiheit bedeutet also manchmal, tun und lassen zu können, was man NICHT will, aber als auf Grund natürlicher Vorgaben notwendig einsieht. Die Gesellschaft kann und soll zwar versuchen, die natürlichen Barrieren so gut wie möglich auszugleichen, durch Blindenleitsysteme oder elektrische Rollstühle und andere Hilfsmittel. Aber wir wissen alle, dass das nur begrenzt möglich ist. Und an der härtesten Grenze kommt niemand von uns vorbei, dem Tod. Frei ist nicht, wer beschließt, ewig weiterleben zu wollen, sondern frei ist, wer den Tod als „Schwester“ annehmen kann wie Franz von Assisi.
Heute an Christi Himmelfahrt feiern wir, dass Christus, der „erste der neuen Schöpfung“ (vgl. Kol 1,15.18), die geschöpfliche Natur stellvertretend für uns alle zur Rechten Gottes erhöht hat. Diese abstrakte Formulierung meint: Er hat unsere geschöpfliche Situation mit all ihren Begrenztheiten in die Gegenwart Gottes hineingenommen. Die geschöpflichen Grenzen sind im Himmel nicht beseitigt. Auch wenn es keine physischen Grenzen von Raum und Zeit mehr gibt, bleiben die existenziellen Grenzen des Geschöpfseins erhalten: Auch im Himmel sind wir nicht alles und können wir nicht alles. Sonst hätten wir dort keine Identität mehr und könnten einander nicht begegnen. Das geht eben nur durch Selbstbegrenzung. Die Evangelien machen das durch die Wundmale des Auferstandenen sichtbar. Diese härtesten Grenzen seines Lebens bleiben. Aber sie sind verklärt, verwandelt, erscheinen in einem neuen Licht: Grenzen werden uns nicht mehr ärgern oder als Beschränkung unserer Freiheit erscheinen. Sie werden vielmehr, mit den Augen der Liebe gesehen, Brücken zum Mitmenschen und zum Mitgeschöpf.
In Europa haben wir seit 75 Jahren kaum kollektive Begrenzungen der Natur erleben müssen. Es schien grenzenlose Freiheit möglich. Das hat uns in der falschen Haltung bestärkt, absolute Freiheit zu beanspruchen. Und überall dort, wo sich widerständige Phänomene zeigten, wie der dramatische Verlust von Biodiversität oder die Klimaerwärmung, haben wir diese erfolgreich verdrängt und buchstäblich nichts getan. Wir wollten nicht merken, dass die von uns beanspruchte Freiheit vielen Lebewesen ihre Freiheit nimmt. Erst das Coronavirus kommt mit einer solchen Wucht, dass die Verdrängungsstrategie nicht mehr funktioniert.
Christi Himmelfahrt feiern heißt, die Grenzen der Schöpfung trotz all ihrer Sperrigkeit als etwas Gutes, Wertvolles anzunehmen – weil sie uns die Brücke zueinander ermöglichen und weil sie, mit den Augen des Himmels gesehen, hervorragende Orte der Liebe sind. Bei Gott haben die geschöpflichen Grenzen in Ewigkeit ihren Platz. In diesem Sinne wünsche ich allen einen gesegneten Himmelfahrtstag!
Michael Rosenberger