Liebe WegbegleiterInnen auf dem Weg durch dunkle Zeiten,
noch am Freitag, dem 13.11.20, verkündete der Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, Erzbischof Franz Lackner, bei einer allfälligen Verschärfung des Lockdowns würden die Kirchen auf jeden Fall weiterhin Gottesdienste halten. Nur einen Tag später verlautbarte die österreichische Bundesregierung, zu den Verschärfungen bis zum 6.12.20 gehöre auch ein (mit Lackner abgesprochenes) Verbot öffentlicher Gottesdienste. Dabei hatten nach dem ersten Lockdown im Frühjahr viele Menschen kritisch gefragt, ob die Kirchen nicht „systemrelevant“ seien.
Nun muss man ehrlicherweise sagen, dass die gegenwärtigen Verordnungen den Kirchen mehr Freiheiten lassen als im Frühling. Die Seelsorge in Krankenhäusern und Altenheimen wird im Unterschied zu damals flächendeckend als Teil des Systems betrachtet – SeelsorgerInnen haben diesmal auch in weltlichen Einrichtungen dieselben Rechte wie das ärztliche und Pflegepersonal. Auch was Begräbnisse angeht, sind die jetzigen Einschränkungen weit milder als damals. Man hat also durchaus aus dem ersten Durchgang gelernt und regelt die seelsorglichen Möglichkeiten differenzierter und angemessener.
Gleichwohl bleibt die große Frage im Raum stehen, ob die Kirchen bzw. Religionen Systemrelevanz haben. Sicher, durch ihre öffentlichen Äußerungen, die den Regierungen in der Corona-Krise den Rücken stärken, übernehmen die Kirchen ungefragt, aber sehr selbstverständlich die Rolle der Systemstützung. Und das ist richtig so: In Notzeiten würde die Demontage eines Systems das völlige Chaos verursachen. Außerdem sollten wir in Mitteleuropa dankbar und wertschätzend anerkennen, dass unser politisches wie auch unser Gesundheitssystem so schlecht nicht ist – bei allen Mängeln, die jetzt zutage treten. Man braucht ja nur in andere Länder schauen, um zu sehen, was uns erspart bleibt. – Also: In Notzeiten gilt es, das System zu stützen, und das haben die Führungspersonen der Kirchen ebenso intuitiv richtig erkannt wie die Mehrheit der Bevölkerung.
Die Zeit für grundlegende Reformen hingegen ist unmittelbar nach der Krise. Nicht fünf oder zehn Jahre später, denn da sind die wichtigsten Erfahrungen schon lange vergessen, sondern unmittelbar danach – und das meint: Im ersten Jahr nach dem Ende der Notmaßnahmen. Die Weitblickenden machen sich jetzt schon Notizen, was dann auf den Tisch gehört. Allerdings, und das ist verwunderlich: In den Kirchenleitungen werden nur wenige solche Notizen gemacht.
Das unterstreicht meine Beobachtungen aus den letzten zwei Jahrzehnten: Sobald jemand Bischof wird, hat seine Sorge um die Systemerhaltung größte Priorität. Und zwar um die Erhaltung nicht des Systems Kirche, wie oft geargwöhnt wird, sondern des Systems Staat und des Systems halbstaatlicher Strukturen (Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Bauernverband etc.). Es scheint fast so, als ob mit der Bischofsweihe alle Kritik an den Machtverhältnissen auf homöopathische Dosierungen heruntertransformiert würde.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: An vielen Positionen ist die Kirche mit guten Gründen Teil anderer gesellschaftlicher Systeme: Im Religionsunterricht und an den theologischen Fakultäten ist sie Teil des staatlichen Bildungssystems. In Krankenhäusern und Altenheimen mit der Seelsorge Teil des öffentlichen Gesundheitswesens und Sozialsystems. Durch die Caritas gehört sie zu den größten Arbeitgebern des Landes – in einem Bereich, der von öffentlichen Sozialsystemen finanziert wird. Prinzipiell liegt es also im wohlverstandenen Eigeninteresse der Kirchen, wenn der Staat im Großen und Ganzen stabil ist. Aber muss das schon heißen, dass man sich in Sachfragen nicht mehr deutlich systemkritisch positionieren kann? Muss man als Bischof alle Systemirritation und alle Systemstörung meiden wie der Teufel das Weihwasser?
Der Soziologe Hartmut Rosa hat in der Oktober-Ausgabe der Herder-Korrespondenz einen sehr interessanten Beitrag geschrieben (kostenpflichtig downloadbar unter: https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2020/10-2020/wie-systemrelevant-sind-die-kirchen-zwischen-unverfuegbarkeit-und-fundamentalismus/). Darin zeigt er, dass die Moderne ganz auf die Verfügbarkeit aller Dinge und Prozesse zielt (Papst Franziskus nennt genau das das technokratische Paradigma): Alles ist machbar, berechenbar, planbar. Nichts wird dem Zufall überlassen. Das Problem ist aber, so Rosa, dass Gott und die Erfahrung seiner Nähe gerade nicht machbar, berechenbar, planbar sind. Wenn die Kirchen sich also restlos in das gesellschaftliche System einordnen, dann verraten sie ihren ersten und höchsten Auftrag: Gott Raum zu geben. Und dann merken die Menschen über kurz oder lang, dass sie Gott in den Kirchen nicht erfahren – und bleiben weg.
Wenn die Kirchen Gott mehr Raum geben wollen, müssen sie also (außerhalb der Krisenzeiten) das System stören. Sie müssen kritisch hinterfragen, leidenschaftlich Partei ergreifen für die Machtlosen, die keine Stimme haben – und zwar im Sinne einer Systemkritik! Wir sollten nicht vergessen, dass Jesus für seine Systemstörung gekreuzigt wurde. Die Tempelreinigung war ein Aufschrei gegen die herrschenden Machtverhältnisse am Jerusalemer Tempel, gegen die Macht- und Geldgier der religiösen Kaste. Mit den Tischen und Bänken der Geldwechsler und Opfertierhändler wirft Jesus symbolisch das Tempelsystem um. Gerade weil die Angegriffenen das hervorragend verstanden haben, haben sie Jesus umgebracht.
Hartmut Rosa schreibt, dass es ihn irritiere, dass die Frage nach der Systemrelevanz der Kirchen ausgerechnet in Kirchenkreisen besonders oft gestellt wurde und wird. Und das nicht nur bei Bischöfen. Offenbar wollen viele in der Kirche Engagierte – Hauptamtliche ebenso wie Ehrenamtliche, Priester ebenso wie Laien, TheologInnen ebenso wie NichttheologInnen – unbedingt „systemrelevant“ sein. Rosa hält das für einen Trugschluss. Wir sollten froh sein, dass viele Bereiche des kirchlichen Lebens nicht als Teil des Systems betrachtet werden, denn das gibt uns viel mehr Freiheit, Räume für den unverfügbaren Gott zu schaffen.
Insofern lade ich ein, in den nächsten Wochen aufmerksam zu werden auf die überraschenden Wege, auf denen Gott zu uns kommt. Es muss nicht die Sonntagseucharistie in der Kirche sein. Gott hat viel mehr Möglichkeiten als wir uns ausmalen können. Aber wir müssen hellwach sein – sonst geht er an uns vorbei. Genau das heißt adventlich leben – und der Advent ist ja schon sehr nahe.
In diesem Sinne ein gutes Vorankommen,
Michael Rosenberger