Liebe Pilgernde in der Erwartung des Geistes,
Ein letztes Mal komme ich auf die bahnbrechende historische Darstellung von Kyle Harper zurück: Die pandemischen und klimatischen Katastrophen des 6. und 7. Jh. fördern in der Bevölkerung der Nordhalbkugel eine starke apokalyptische Stimmung – und zwar in allen für uns erschließbaren Religionen dieser Epoche bis zum chinesischen Buddhismus und den nordischen Götterkulten. Im Christentum gewinnt diese apokalyptische Stimmung in verschiedener Weise Gestalt:
- Zunächst einmal werden umfassende Kommentare zum letzten Buch der Bibel geschrieben, zur Geheimen Offenbarung des Johannes. Lange Zeit hatte man gezögert, sie überhaupt als biblisches Buch zu betrachten. Jetzt gewinnt sie große Faszination. Mosaiken und Buchmalereien zeugen davon, wie sehr dieses Buch plötzlich die Menschen beschäftigt.
- Außerdem verkaufen zahlreiche wohlhabende ChristInnen dieser Zeit ihren gesamten Besitz und stiften den Erlös der Kirche, damit die ihre caritativen Werke ausbauen kann. Solche Großverkäufe führen manchmal sogar zum Zusammenbruch der lokalen Immobilienmärkte. Weil zu viele Immobilien zum Verkauf stehen, fallen die Preise in den Keller. – Das Motiv der verkaufenden ChristInnen ist natürlich ein doppeltes: Wenn erstens das Weltende nahe ist, kommt es auf den Besitz ohnehin nicht mehr an. Und wenn auf das Weltende das Jüngste Gericht folgt, kann man bei so viel sozialem Engagement halbwegs beruhigt vor den göttlichen Thron treten.
- Liturgisch gewinnen in dieser Zeit die Buß- und Bittgottesdienste sowie die Bittprozessionen besondere Bedeutung. Papst Gregor der Große (540-604) hat sie in Konstantinopel kennengelernt und von dort mit nach Rom gebracht. In den letzten Tagen vor Christi Himmelfahrt halten wir traditionell die Bittprozessionen und beten um eine gute Ernte. Wir tun damit etwas, was in den Nöten des 6. Jh. seinen Ursprung hat.
- Im Kontext apokalyptischer Erwartung des Jüngsten Gerichts gewinnt der Erzengel Michael als Schutzpatron besondere Bedeutung, denn er ist der „Gerichtsvollzieher“ Gottes, der auf der Seelenwaage die guten Taten eines Menschen gegen die schlechten abwägt. Die großen Michaelsheiligtümer Europas entstehen in dieser Zeit: Das Heiligtum auf der irischen Skellig Michael und der Saint Michael’s Mount vor der Küste Cornwalls (beide um 500, also noch vor der Pest, aber schon in der Phase der Klimaverschlechterung), der Monte Gargano oder Monte Sant‘ Angelo in Apulien (7. Jh.), der Mont Saint Michel vor der Küste der Normandie (8. Jh.) und schließlich als Nachzügler die Sacra di San Michele im Susatal westlich von Turin (10. Jh.).
- Auch die Marienverehrung bekommt neuen Schub, prägt sich aber anders aus als zuvor. Identifiziert mit der apokalyptischen Frau (Offb 12) wird Maria nun diejenige, die den zornigen Gott beim Gericht um Milde bittet. Theologisch eine durchaus problematische Vorstellung: Ist Gott nur durch seine Mutter zu besänftigen? Ist er nicht selbst der Barmherzige?
- Schließlich bedeuten die Katastrophen des 6. Jh. einen enormen Schub für die Ikonenverehrung in Ost und West (!): Die berühmte Ikone „Salus populi Romani“ in einer Seitenkapelle von Santa Maria Maggiore in Rom stammt aus dieser Zeit. Genau diese Ikone hat Papst Franziskus vom Palmsonntag bis Ostern 2020 in den Petersdom geholt, um ihr alle Sorgen und Nöte der Corona-Krise anzuvertrauen. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob Franziskus den historischen Bezug zur Pandemie des 6. Jh. kennt. Kyle Harper hat ihn schließlich erst vor kurzem aufgedeckt. Aber Franziskus hat intuitiv gemerkt, dass es genau diese Ikone ist, die für die Gläubigen in Rom der Anlaufpunkt in schwerer Not ist.
Vielleicht macht euch/ Ihnen diese Aufzählung bewusst, wie viele liturgische und spirituelle Praktiken wir der Zeit der Justinianischen Pest und der spätantiken kleinen Eiszeit verdanken. Fast alle leben heute noch weiter. Das zeigt, wie produktiv Krisen für die Geistesgeschichte sind. Und wie nahe wir gegenwärtig den Menschen damals sind.
Nicht übersehen dürfen wir, dass wenig später eine neue Religion auf den Plan tritt: Der Islam. Auch er ist ohne die großen Katastrophen dieser Zeit nicht denkbar. Und das ist in seinem theologischen Programm gut erkennbar. Der Islam ist eine „spezielle Ausprägung der apokalyptischen Inbrunst“ (Kyle Harper 2020,407). Das nahende Gericht ist nach der Einzigkeit Gottes seine zweitwichtigste Botschaft. Das erklärt seinen Siegeszug besser als die Wanderlegende von seiner Ausbreitung mit dem Schwert. Denn in Nordafrika, wo er sich zuerst ausbreitet, rennt der Islam offene Türen ein. Die meisten Menschen dort sind AraberInnen und können schon rein sprachlich viel mit dieser neuen Religion anfangen. Außerdem sind sie arme NomadInnen und greifen eine innovative Religion gerne auf – sie bedeutet Aufstieg und Fortschritt. Im Heiligen Land und in Spanien sieht die Sache freilich anders aus. Hier treffen die Araber bzw. die Perser auf morsche Staatsgebilde, wenn man überhaupt noch von solchen sprechen kann. Der Einsatz des Schwertes ist nötig, aber weit weniger als wir zumeist denken. Insofern führt kein Weg daran vorbei anzuerkennen, dass der Islam der größte Gewinner der Spätfolgen der Justinianischen Pest und der spätantiken kleinen Eiszeit ist. Die apokalyptische Stimmung greift er in seiner Botschaft hervorragend auf.
Sowohl das Christentum nach der Cyprianischen Pest als auch der Islam nach der Justinianischen Pest steigen nach Pandemien und Klimakatastrophen auf. Offensichtlich schaffen sie es, den Menschen eine Antwort auf die drängenden Fragen anzubieten, die sie nach solchen Katastrophen haben. Aber sie schaffen es nicht einfach deswegen, weil sie Religionen sind, sondern müssen sich jeweils gegen die Konkurrenz anderer Religionen durchsetzen. Sie überzeugen im Wettbewerb mehrerer Angebote. Andere Religionen sind in denselben Krisenzeiten untergegangen oder haben zumindest viel Boden verloren. Die Krise ist also so etwas wie ein scharfes Messer: Sie scheidet (wie es das griechische Wort krisis besagt) zwischen überzeugenden und nicht überzeugenden religiösen Angeboten. Die spannende Frage wird sein, wie es nach der Corona-Krise sein wird. Verliert das Christentum als alte, müde gewordene Religion weiter an Boden? Oder gewinnt es durch die Krise neue Lebendigkeit und zieht wieder deutlich mehr Menschen an? Die Antwort wissen wir nicht. Aber wir können etwas dafür tun, dass sie positiv ausfällt…
In diesem Sinne grüßt euch/ Sie
Michael Rosenberger
Löse mich, Heiliger Geist, wenn ich gebunden bin an mich.
Löse mich, Heiliger Geist, wenn ich gebunden bin an Mitmenschen.
Löse mich, Heiliger Geist, wenn ich gebunden bin an Güter der Welt.
Löse mich, Heiliger Geist, wenn ich gebunden bin an Ehre und Macht.
Löse mich, Heiliger Geist, wenn ich gebunden bin an die Last des Tages.
Löse mich, Heiliger Geist, wenn ich gebunden bin in Not und Nacht.
Löse mich, Heiliger Geist, wenn ich gebunden bin an Sünde und Bosheit.
(Richard Thalmann)