Liebe Wandernden durch die zweite Corona-Fastenzeit,
mittlerweile hat auch Australien mit dem Impfen begonnen – man kann nur neidvoll ans andere Ende der Welt schauen und bewundern, mit wie viel Disziplin, aber auch mit wie viel Gelassenheit die Menschen dort die Pandemie bewältigen. Dagegen höre ich bei uns von einer Bäckereiverkäuferin, dass sie noch immer tagtäglich Dutzende KundInnen darauf hinweisen muss, dass der Laden nur mit Maske betreten werden darf. Und in Würzburg auf der alten Mainbrücke tummeln sich offenbar auch schon wieder die Menschen ohne Abstand und ohne Masken, obwohl auf der gesamten Brücke wegen des Gedränges Maskenpflicht gilt, so dass verstärkte Polizeikontrollen nötig sind. So langsam frage ich mich, ob die AustralierInnen irgendein Gen haben, das sie für die Einhaltung der AHA-Regeln geeigneter macht als uns EuropäerInnen…
Unter dem Titel „Diesseits von Eden. Gespräche über Gott und die Welt“ gibt es seit kurzem einen Podcast, der österreichische TheologInnen zu einem bestimmten Thema zu Wort kommen lässt. Der neueste Beitrag (gut 9 Minuten), an dem ich selber auch beteiligte bin, lautet: „Impfpflicht: Was kann der Beitrag der Theologie in der Debatte sein?“ https://diesseits.theopodcast.at/impfpflicht-debatte-corona-theologie Ich wünsche viele Anregungen beim Anhören!
Heute möchte ich die erste Lesung des zweiten Fastensonntags auslegen – sicherlich einen der anspruchsvollsten und herausforderndsten Texte der gesamten Bibel:
Lesung aus dem Buch Genesis (Gen 22,1-18)
Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er sagte: Hier bin ich. Er sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar! Frühmorgens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel, nahm zwei seiner Jungknechte mit sich und seinen Sohn Isaak, spaltete Holz zum Brandopfer und machte sich auf den Weg zu dem Ort, den ihm Gott genannt hatte. Als Abraham am dritten Tag seine Augen erhob, sah er den Ort von Weitem. Da sagte Abraham zu seinen Jungknechten: Bleibt mit dem Esel hier! Ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen und uns niederwerfen; dann wollen wir zu euch zurückkehren. Abraham nahm das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen beide miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham. Er sagte: Mein Vater! Er antwortete: Hier bin ich, mein Sohn! Dann sagte Isaak: Hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer? Abraham sagte: Gott wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, mein Sohn. Und beide gingen miteinander weiter. Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham dort den Altar, schichtete das Holz auf, band seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da rief ihm der Engel des HERRN vom Himmel her zu und sagte: Abraham, Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten. Abraham erhob seine Augen, sah hin und siehe, ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar. Abraham gab jenem Ort den Namen: Der HERR sieht, wie man noch heute sagt: Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen. Der Engel des HERRN rief Abraham zum zweiten Mal vom Himmel her zu und sprach: Ich habe bei mir geschworen – Spruch des HERRN: Weil du das getan hast und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen überaus zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand. Deine Nachkommen werden das Tor ihrer Feinde einnehmen. Segnen werden sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil du auf meine Stimme gehört hast.
Die Erzählung vom Opfer Abrahams kennen wir alle schon seit der Volksschule, und sie bleibt doch eine schwierige Geschichte – vor allem, weil wir sie oft wortwörtlich lesen. Natürlich will Gott kein Menschenopfer! Wörtlich interpretiert macht die Geschichte keinen Sinn. Aber lesen wir den Text symbolisch – siehe, er erschließt sich sehr schnell! Wir alle kennen Menschen, von denen Gott genau das verlangt hat, was in der Geschichte erzählt wird: Den liebsten Menschen herzugeben. Ich denke an Eltern, deren Kind durch eine furchtbare Krankheit oder einen schrecklichen Unfall gestorben ist. Ich denke an Eheleute, die ihren Partner allzu früh und vor der Zeit des Alters verloren haben. Ich denke auch an Kinder, die lange vor dem Erwachsenwerden in das Grab ihres Vaters oder ihrer Mutter schauen müssen. Da hat Gott, „der Herr über Leben und Tod“, wie wir bekennen, Menschen das Leben genommen – und die Hinterbliebenen müssen mit diesem schmerzlichen Verlust leben. Von ihnen verlangt Gott das in der Realität, was er von Abraham nur theoretisch eingefordert hat.
„Dein Wille geschehe“ beten wir tagtäglich im Vater Unser. Aber meinen wir das auch, wenn es uns so hart trifft wie die eben genannten Menschen? Oder meinen wir eher: „Dein Wille geschehe, aber nur unter der Bedingung, dass er uns Gutes bringt!“ Wenn das zweite gälte, wäre Gott für uns nur ein Wunscherfüller, ein billiger Götze. Das ist er aber nicht. Er bleibt dunkel, unverständlich, undurchschaubar. Warum etwas sein Wille ist, erfahren wir in diesem irdischen Leben nicht. Wir können uns nur dagegen auflehnen – oder seinen Willen im Vertrauen darauf annehmen, dass es einen Sinn gibt, auch wenn er sich uns nicht erschließt.
Genau diese Frage, welche der beiden Reaktionen er wählen soll, stellt sich Abraham. Nicht Gott stellt ihn eigentlich auf die Probe, sondern er sich selbst. Was wäre, wenn Isaak jetzt einen tödlichen Unfall hätte?, fragt sich Abraham. Was wäre, wenn er einer unheilbaren Krankheit zum Opfer fiele? Könnte ich dann noch auf Gott vertrauen? Oder wäre ich dann fertig mit Gott, würde mit ihm brechen, Schluss machen? In seiner Phantasie ringt Abraham unendlich lange und intensiv. Und er hört die Fragen seines Kindes: Papa, warum will Gott, dass ich sterbe? Fragen, die die Kinder in den Kinderhospizen, Kinderkrebsstationen und anderswo Tag für Tag stellen. Abraham hat darauf genauso wenig eine Antwort wie die Eltern und SeelsorgerInnen heute. „Gott wird sich das Opfer schon aussuchen, mein Sohn!“ Das ist keine Antwort auf die Frage, sondern „nur“ das Bekenntnis des Vertrauens. Aber es ist viel mehr wert als jede Antwort.
Manche Eltern wünschen sich in dieser Situation, Gott möge ihr Leben nehmen und das Kind am Leben lassen. Aber darüber können wir mit Gott nicht verhandeln oder tauschen. – Wie beklemmend ist die letzte Wegstrecke, die Eltern mit ihrem sterbenden Kind gemeinsam gehen. Wie erfüllt von Trauer und Schmerz. Und doch auch wie wertvoll, wie erfüllend, wie dicht und intensiv. Es gilt sie auszukosten – jede Minute, jeden Augenblick, jedes Wort und jede Geste. Tief graben sie sich in die Herzen derer ein, die schon bald alleine zurückbleiben und den geliebten Menschen loslassen müssen.
Mitunter mag es gut ausgehen: Der sterbenskranke Mensch wird wie durch ein Wunder geheilt und darf weiterleben. So erzählt es die biblische Geschichte. Aber schon vorher hat Abraham begriffen: Er wäre bereit, sein Kind loszulassen. Er würde auch dann noch auf Gott vertrauen. Er würde nicht verbittern, nicht resignieren, sondern durch allen Schmerz und alle Trauer hindurch an Gott festhalten und mit ihm weitergehen. Denn seine wichtigste Erfahrung ist: „Der HERR sieht!“ Er sieht unseren Schmerz, er sieht unser Leiden, er sieht unsere Demut und unser Vertrauen. Er sieht! In sein Herz ist all das eingeschlossen und dort gut aufgehoben.
Die Kirche legt uns diesen Text nicht zufällig in der Fastenzeit vor. Die vierzig Tage auf Ostern zu sollen eine Zeit der Prüfung sein. In der Osternacht sollen wir unser Vertrauen auf Gott ehrlich und ohne Vorbehalt neu bekräftigen und bekennen. Und so ist es gut, wenn wir uns wie Abraham auf die Probe stellen – in unserer Phantasie den „worst case“ durchspielen, der uns treffen könnte. Können wir darauf vertrauen, dass uns Gott dann sehen wird? Können wir größeres Mitgefühl für die aufbringen, die von einem solchen Verlust real betroffen sind? Und ahnen wir vielleicht sogar die Freiheit, die uns erwächst, wenn wir uns nicht zu sehr an bestimmte Menschen oder Dinge klammern – auch dann, wenn sie völlig gesund sind und es ihnen gut geht?
Die biblische Geschichte endet mit der Segnung Abrahams. Wo Menschen so vertrauen können, sind sie gesegnet. Auf lange Sicht werden sie eine tiefere Zufriedenheit, eine größere Sicherheit, ein innigeres Gefühl des Getragenseins verspüren.
Ich schließe mit einem Gebet zu dieser Bibelstelle von Theo Schmidkonz SJ (1926 – 2018):
Gott, alle Berufungen beginnen mit deinem Wort: Verlass! Lass los – Lass die Dinge los – Lass die Menschen los – Lass auch dich selber los – Einmal musst du alles verlassen.
Gott, ich habe Angst, ich könnte mich verlassen fühlen, es könnten mich auch Freunde verlassen, und wenn gar du mich verlassen würdest – Verlass mich nicht, du mein Gott!
Du antwortest: Du bist nicht verlassen! Du bist nicht dir überlassen. Du musst mir nur alles überlassen, dich ganz verlassen – auf mich.
Gott, ich möchte alles lassen. Ich möchte auch mich verlassen. Ich möchte mich ganz verlassen – auf dich, Du, mein Verlass, du einzig Verlässlicher! Mach mich gelassen, damit man sich auch – auf mich verlassen kann.
Ihnen/ Euch allen einen gesegneten zweiten Fastensonntag,
Michael Rosenberger