Liebe mit der Last des Virus Beladenen,
in den vergangenen Tagen haben die Regierungen etlicher europäischer Länder, darunter auch Österreichs und Deutschlands, die Rahmenbedingungen für die Weihnachtstage beschlossen und bekanntgemacht. Für mich selber dürfte das mit einiger Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass ich zum ersten Mal die Weihnachtsferien komplett in Österreich verbringe – jedenfalls wenn die Inzidenzen nicht noch gewaltig sinken.
Ich habe mich spontan gefragt, wie Weihnachten ausgesehen hätte, wenn im Jahr der Geburt Jesu die vorgesehenen Corona-Regeln gegolten hätten. Der Besuch der Hirten wäre möglich gewesen. Denn mehr als acht Erwachsene werden das kaum gewesen sein, mit Maria und Josef dann zehn, und Kinder zählen nicht, weder das neugeborene Jesuskind noch die Hirtenbuben und -mädchen, die vielleicht auch dabei waren. In der Heiligen Nacht wäre also alles so gewesen wie im Evangelium erzählt. Höchstens könnte man fragen, ob die Engel hätten singen dürfen – bei uns ist Chorgesang derzeit ja verboten.
Anders wäre das jedoch mit dem Besuch der Weisen aus dem Morgenland gewesen. Ihre Zahl nennt die Bibel nicht. Aber mehr als drei dürften es schon gewesen sein. Und Weise waren Führungspersönlichkeiten, die gewiss nicht ohne DienerInnenschaft gereist sind. Die haben daher locker die Zehn-Personen-Obergrenze gesprengt. Noch dazu mussten sie Ländergrenzen überschreiten – und da wären sie hängengeblieben und hätten in zehntägige Quarantäne gehen müssen. Daher wären sie in Bethlehem erst angekommen, nachdem die Heilige Familie schon abgereist war… Tja, wie folgenreich eine Pandemie doch sein kann!
Bevor ich mich nach diesem Einstieg zum Schmunzeln der Lesung des morgigen Sonntags zuwende, noch ein kurzer Hinweis auf ein Interview, das ich vorgestern dem Domradio Köln gegeben habe. Thema war das neue Fleisch aus dem Labor, das in Singapur zum Verzehr freigegeben wurde. Zu hören ist das Gespräch unter: https://www.domradio.de/node/376343 .
Und jetzt zur Jesaja-Lesung von morgen, die unter diesem Link zu finden ist: https://www.erzabtei-beuron.de/schott/schott_anz/index.html?datum=2020-12-06
ERSTE LESUNG: Jes 40, 1-5.9-11
Lesung aus dem Buch Jesaja
Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu, dass sie vollendet hat ihren Frondienst, dass gesühnt ist ihre Schuld, dass sie empfangen hat aus der Hand des HERRN Doppeltes für all ihre Sünden! Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt den Weg des HERRN, ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. Dann offenbart sich die Herrlichkeit des HERRN, alles Fleisch wird sie sehen. Ja, der Mund des HERRN hat gesprochen.
Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den Städten in Juda: Siehe, da ist euer Gott. Siehe, GOTT, der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Siehe, sein Lohn ist mit ihm und sein Ertrag geht vor ihm her. Wie ein Hirt weidet er seine Herde, auf seinem Arm sammelt er die Lämmer, an seiner Brust trägt er sie, die Mutterschafe führt er behutsam.
Wort des lebendigen Gottes
Die Lesung ist die programmatische Eröffnung der Reden des sogenannten „Deutero-Jesaja“, also des zweiten Jesaja. Im Jesaja-Buch erkennt die Bibelwissenschaft nämlich drei völlig unterschiedliche Personen, die noch dazu in ganz unterschiedlichen Zeiten gelebt haben. Der erste Jesaja und seine Schüler haben die Kapitel 1-39 verfasst, der zweite die Kapitel 40-55 und der dritte, von dem wir am nächsten Sonntag hören, die Kapitel 56-66. Zwischen dem zweiten und dritten liegen Jahrzehnte, zwischen dem ersten und zweiten Jahrhunderte. Nun wirkt der zweite Jesaja, von dem der heutige Text stammt, im Babylonischen Exil. Er hört davon, dass der Perserkönig Kyrus Stück für Stück das riesige babylonische Reich erobert und alle gefangenen Völker nach Hause ziehen lässt. Schon nähert sich Kyrus der Hauptstadt Babylon, in der die Israeliten gefangen sind. Und da beginnt Jesaja mit diesem wunderbaren Satz: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ Man kann sich vorstellen, wie ein solcher Satz auf Menschen wirkt, die schon dreißig Jahre in der Fremde leben und deren Heimatstadt Jerusalem in Trümmern liegt. Für sie gibt es nichts Schöneres als die Aussicht auf Rückkehr in die Heimat. Die meisten Vertriebenen dieser Erde haben eine solche Aussicht nie.
In dieser Freude ruft der Prophet auf, die Wege zu bahnen, alles Krumme gerade und alles Hügelige eben zu machen. So bequem und reibungslos wie möglich sollen die Verbannten nach Hause kommen. Das sind die Sätze, die das Neue Testament mit Johannes dem Täufer verbindet. Der sieht seine Rolle offenbar so wie 570 Jahre vorher der zweite Jesaja. Johannes darf ankündigen, dass schon sehr bald wieder eine Befreiung erfolgen wird. Diesmal nicht aus einer physischen Gefangenschaft, sondern aus einer geistigen oder spirituellen. Diesmal nicht durch einen fremden König mit einem großen Heer, sondern durch einen Rabbi mit ein paar SchülerInnen, die ohne Habe und ohne Bleibe durchs Land wandern. Aber diese innere Befreiung wird noch größer sein als jene äußere durch König Kyrus von Persien. Deswegen gilt es die Wege zu bereiten.
So groß ist die Vorfreude des Deutero-Jesaja, dass er das als eine Frau personifizierte Jerusalem aufruft, auf einen hohen Berg zu steigen und die Nachricht laut hinauszuposaunen – so laut und in alle Richtungen, dass alle Städte Judas es hören können. Alle sollen es wissen und daran teilhaben. Alle sollen bereitstehen und schauen, wenn die Gefangenen zurückkommen. – Das Bild erinnert mich stark an die Züge, die die gefangenen deutschen Soldaten vor 70 und mehr Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurückbrachten. Erwartungsvoll standen die Menschen auf den Bahnhöfen – und oft wurden sie enttäuscht. Da kam der Vater nicht mehr lebend nach Hause. Da kam er schwer gezeichnet von den Gräueln des Krieges. Da erkannten Kinder ihre Väter nicht wieder. Man merkt, dass der zweite Jesaja nicht aus der Perspektive derer daheim schreibt, sondern aus der Perspektive derer in Gefangenschaft. Er wünscht sich einen freudigen Empfang, wenn er zurückkommt. Und er kann sich gar nicht vorstellen, dass die Daheimgebliebenen eine andere Gefühlslage haben als er und seine Mitgefangenen.
Johannes der Täufer hat es da einfacher. Er verkündet eine geistige, spirituelle Heimkehr. Und die braucht wirklich nicht den geringsten Schatten auf die Freude fallen lassen. Ob wir uns also eher zu den heimkehrenden Gefangenen zählen oder zu den erwartungsvoll Wartenden daheim, wir dürfen uns ungetrübt freuen. Corona wird noch eine Weile bleiben, und nicht alle überleben das Virus. Aber mitten in den Zeiten der Pandemie erfahren wir eine andere, größere Freiheit: Geliebt und angenommen zu sein – von manchen Menschen und auf jeden Fall von Gott.
Anknüpfend an die Lesung schließe ich mit dem Lied im Würzburger Bistumsteil des Gotteslobs Nr. 749. Der deutsche Text stammt von Winfried Offele (geboren 1939), ehemaliger Kirchenmusiker in Herne, nach dem französischen Original von Michel Scouarnec (geboren 1934), Priester der Diözese Quimper/ Finisterre in der Bretagne.
Seht, neuer Morgen in unsrer Nacht:
Gott befreit sein Volk, schon kommt er herbei.
Glück für die Menschen. Fest ohne End.
Bereitet den Weg, den Weg für den Herrn.
Hört, gute Nachricht, Freudengesang:
Gott befreit sein Volk, schon kommt er herbei.
Ruf in der Wüste trifft unser Ohr.
Bereitet den Weg, den Weg für den Herrn.
Seht, neues Leben, seht, neue Welt:
Gott befreit sein Volk, schon kommt er herbei.
Er schenkt den Frieden, er ist bei uns.
Bereitet den Weg, den Weg für den Herrn.
In diesem Sinne allen einen segensreichen zweiten Advent!
Michael Rosenberger