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Pilgern durch die Coronakrise - 5. November 2020

Liebe Corona-PilgerInnen,
 
tief betroffen von dem Attentat in Wien am Montagabend schreibe ich euch/ Ihnen meinen nächsten Rundbrief. 
 
Als am Sonntagabend im ZDF der Journalist Theo Koll den thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) fragte, ob er denn die zweite Welle nicht vorhergesehen habe, war dieser einen Moment sprachlos. Und ich als Zuschauer auch. Als hätten die Journalisten schon seit Monaten eine zweite Welle diesen Ausmaßes und dieser Geschwindigkeit vorhergesagt! Nein, so viel Ehrlichkeit muss sein: Dass eine zweite Welle kommt, wussten wir. Aber dass sie um so viel größer und schneller daherkommt als die erste Welle, das hat niemand, wirklich niemand, vorausgesagt. Die Wucht der zweiten Welle ist gewaltig und überrollt uns total. Es ist eine wahre Monsterwelle. Nur das in der ersten Welle gewonnene therapeutische und pflegerische Wissen bewahrt uns derzeit vor einer echten Katastrophe. 
Das Besondere ist, dass alle gegenwärtig lebenden Menschen diese Erfahrung zum ersten Mal machen: Die Natur ist um Lichtjahre stärker als wir – wir haben sie nicht einmal ansatzweise im Griff. Das haben wir jedoch noch nicht am eigenen Leib erlebt – und das macht uns diesem Phänomen gegenüber so hilflos. Wir haben keine mentalen Ressourcen, damit umzugehen. Ja, schlimmer noch: Das „technokratische Paradigma der Moderne“, wie es Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si 2015 genannt hat, beherrscht das Denken moderner Industriegesellschaften total: Wir halten alles für machbar, alles für beherrschbar, alles für regelbar. Wenn etwas technisch nicht geht, lasten wir das entweder der Phantasielosigkeit der TechnikerInnen oder dem mangelnden politischen Willen an, aber nicht der Technik an sich. Die ist unser Fetisch, unser Götze, auf die lassen wir nichts kommen.
 
Dieses technokratische Denken hat die Politik lange Zeit mitgespielt, ja oft genug sogar aktiv gefördert. Die deutsche Bundeskanzlerin etwa ist eine meisterhafte Technokratin, und das meine ich jetzt durchaus auch anerkennend, denn sie hat mit ihrer Methode viele Probleme sehr gut lösen können – man denke nur an die Finanzkrise 2008/09. Aber Frau Merkel ist intelligent genug um zu wissen, dass technokratisches Denken und Handeln Grenzen hat. Die Natur lässt sich damit eben nur sehr teilweise „in den Griff kriegen“. Ich frage mich manchmal, warum gerade in den letzten zwei bis drei Jahren wieder gigantische Raumfahrtprogramme aufgelegt werden, nachdem es seit 1990 im Weltraum eher ruhig geworden war. Mein Verdacht: Wir wollen das Mantra von der Beherrschung der Welt durch menschliche Technik nicht aufgeben. Mit allen Mitteln wehren wir uns gegen die immer deutlicher werdenden Anzeichen für unsere Begrenztheit. Bei der Lösung der großen Umweltprobleme kommen wir seit Jahrzehnten keinen Millimeter voran, die Umweltzerstörung zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Aber anstatt uns das einzugestehen, fliehen wir in Weltraumträume, um unsere Allmachtsphantasien aufrechterhalten zu können.
 
Denn das sollten wir uns klarmachen: Die Erfahrung, dass die Natur stärker ist als wir, ist eine tiefe Kränkung, eine Demütigung. Wir spüren am eigenen Leib, dass wir eben nicht die Krone der Schöpfung sind, sondern ein winzig kleines Rädchen im großen Getriebe des Weltalls. Das an sich sehr vernünftige und evolutionsbiologisch betrachtet uns angeborene Streben, die wichtigen Prozesse des eigenen Lebens „unter Kontrolle zu haben“, kommt mit der gegenwärtigen Pandemie an seine Grenzen. Wir haben das Virus nicht unter Kontrolle, so wie wir zuvor schon die Klimaerwärmung und das Artensterben nicht unter Kontrolle hatten (nur dass wir es da bis jetzt verdrängt haben). Und das nicht nur durch unsere Nach- oder Fahrlässigkeit, sondern auch weil die Natur stärker ist als wir. 
 
Um die Kontrolle wiederzuerlangen, ist das ehrliche und ungeschminkte Eingeständnis des Kontrollverlusts der erste Schritt. Verbunden mit dem Eingeständnis, dass menschliche Kontrolle immer nur begrenzt ist, und dass wir von den Prozessen dieser Erde weniger kontrollieren als wir nicht kontrollieren können. Die spirituelle Tradition hat diese Haltung „Demut“ genannt. Lateinisch humilitas, von humus, dem Erdboden abgeleitet. Demut meint das Wissen darum, dass wir von der Erde genommen sind, zur Erde zurückkehren und uns zwischendrin von der Erde ernähren. Demut heißt, die eigene Zerbrechlichkeit bejahen, annehmen und wertschätzen! Ja, wertschätzen. Weil es diese Zerbrechlichkeit ist, die das Leben erst wertvoll macht. Weil es diese Zerbrechlichkeit ist, die uns zur Kooperation, zum Miteinander, zur Liebe ermutigt. Wären wir Supermänner und Superfrauen, bräuchten wir die Liebe nicht. Wir brauchen sie, weil wir nicht super sind.
 
Allerseelen ist wie der Aschermittwoch und die Fastenzeit eine Einladung zur Demut: Mensch, gedenke, du bist aus Staub. Oft genug haben wir diesen Satz gehört – aber ist er in unser Herz eingesickert? Ist er zu unserer Haltung geworden? Oder ist er an uns abgeperlt als ein frommer Spruch ohne Lebenswirklichkeit? Ist er womöglich sogar überlagert worden durch den noch viel häufiger gehörten Satz, dass die menschliche Technik alles beherrschen kann. In den letzten Jahrzehnten gab es wahrlich viele Beispiele, die diesen Satz des technokratischen Paradigmas untermauern konnten. Der technische Fortschritt war gewaltig. Und er hat uns alle (!) fasziniert und in seinen Bann gezogen. Aber jede schwere Erkrankung, jeder Tod eines Menschen, jeder Verlust einer Tier- oder Pflanzenart wäre ein Gegenbeispiel gewesen und der Beweis dafür, dass die Natur stärker ist als wir. Wir haben weggeschaut, wollten es nicht sehen.
 
Ich habe in meiner Lebenszeit noch nie so viele PolitikerInnen so emotional gesehen wie in den letzten Wochen und Monaten. Denn immer lauter werden sie nach „Strategien“ gegen das Coronavirus gefragt, nach „langfristigen Plänen“. Und dann haben sie mitunter sogar Tränen in den Augen, weil es solche Strategien nicht gibt, nicht geben kann. Aber das trauen sie sich nicht zu sagen, weil sie damit ihre Abwahl eingeleitet hätten. Demut heißt, nur auf den nächsten Schritt, die nächsten Tage oder Wochen zu schauen. Und nicht auf die lange Strecke bis zum Ende der Pandemie, denn die hat viel zu viele Unbekannte. Demut heißt, der Politik nichts abzuverlangen, was wir selber nicht haben. Demut heißt für die Politik die Ehrlichkeit, wie der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn einen dritten Lockdown im Frühjahr nicht auszuschließen, denn wie sollte man das heute schon wissen?
 
Demut heißt schließlich auch: Neu wertschätzen, wie großartig es ist, dass wir vertraute Menschen um uns haben, die uns auf dem langen Weg durch die Krise begleiten. Das schien so selbstverständlich – und ist doch mehr als wir je fassen können!
 
In diesem Sinne grüßt euch/ Sie
 
Michael Rosenberger