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Pilgern durch die Coronakrise - 7. Februar 2021

Liebe Wehmütigen, die ihrem Skiurlaub nachtrauern, und alle anderen,

zunächst einmal möchte ich heute allen einen Link empfehlen zu einem Interview der Linzer Kirchenzeitung zu meinem neuen Buch: https://www.kirchenzeitung.at/site/kirche/kircheooe/quelle-fuer-christen-und-atheisten

In aller Herrgottsfrühe habe ich mich heute Morgen auf den Weg zu einer Bergwanderung gemacht. Und siehe, die Autobahn war schon um 6 Uhr ordentlich gefüllt. Den Kennzeichen und Skiboxen auf dem Autodach nach waren es einerseits viele, die für einen Tag zum Skifahren unterwegs waren. Andere Autos kamen aber aus weit entfernten Teilen Österreichs. Der vollgepackte Kofferraum ließ darauf schließen, dass sie eine Zweitwohnung in einem Feriengebiet haben und zu den Wenigen gehören, die die Skiferienwoche ganz legal unternehmen können (von den illegalen UrlauberInnen in Tiroler Skigebieten, die aus aller Herren Länder eingereist sind, wollen wir jetzt mal gar nicht reden!).

Ich selber habe den Tag am Berg enorm genossen. Ich bin vom Almsee zum Offensee und wieder zurück gewandert – eine 6- bis 8-Stunden-Tour, die mir richtig gut getan hat. Oben am Pass, den man überqueren muss, saß ich auf dem Rückweg gegen Mittag im T-Shirt eine halbe Stunde in der Sonne und ließ es mir gut gehen. Zurück am Almsee war dort die Hölle los. Jeder legale und illegale Parkplatz war besetzt, die Heerscharen spazierten um den See. Ich hingegen bin am ganzen Tag etwa zehn Personen begegnet, und die Überschreitung von einem See zum anderen hat außer mir niemand gemacht. Vier Wochen war ich nicht mehr Wandern gewesen – das hat jetzt richtig gut getan!

In diesen Tagen denken viele an den ausfallenden Urlaub in den Faschingsferien – oder an die ausfallenden Ferien überhaupt. In Ostösterreich waren die Schulferien schon diese Woche, in Mittel- und Westösterreich beginnen sie jetzt, in Bayern wären sie in einer Woche, fallen aber heuer ganz aus. Ich selber bin angesichts der einmonatigen vorlesungsfreien Zeit an der Universität etwas flexibler und fahre normalerweise irgendwann im Februar für eine Woche zu einer befreundeten Familie in der Toskana. Auch dieser Besuch muss heuer ausfallen.

Zugegeben: Ein ausfallender Urlaub ist ein Luxusproblem, das nur einen kleinen Teil der Menschheit betrifft. Der größere Teil der Menschheit kann nie in den Urlaub fahren, und auch bei uns ist es nur eine Minderheit, die zum Skifahren wegfährt. Insofern wäre der ausgefallene Urlaub zunächst einmal ein guter Grund, für all die Jahre zu danken, in denen wir in den Urlaub fahren konnten und bald auch wieder können werden. Und vielleicht ergibt sich ja die Gelegenheit, einmal ganz bewusst alte Urlaubsfotos anzuschauen und von den damaligen Unternehmungen zu erzählen. Das lindert die Enttäuschung darüber, dass momentan nichts geht, und tröstet wenigstens ein bisschen.

Das Reisen ist in den letzten Jahrzehnten eine der wichtigsten Formen der Ferien- und Freizeitgestaltung geworden. Wir stecken enorm viel Energie in die Vor- und oft auch in die Nachbereitung. Wir freuen uns ein halbes Jahr lang auf den Urlaub – und erzählen noch Monate später im Freundeskreis davon. Wohl kaum etwas verbinden wir so sehr mit Glück und Wohlstand wie tolle Urlaube. Das war nicht immer so. Der mitteleuropäische Massentourismus ist in den 1960er und 1970er Jahren entstanden. Noch vor 60 Jahren waren Urlaubsreisen eher die Ausnahme – die Ferien verbrachte man im Schwimmbad oder auf dem Balkon. Und wir sollten uns bewusst machen, dass die Menschen auch auf diese Weise ein gutes, erfülltes Leben hatten.

Natürlich: Ein Urlaub bringt den sprichwörtlichen Tapetenwechsel, ermöglicht uns Abstand vom Alltag und seinen Sorgen. Urlaub bedeutet das Entdecken anderer Regionen oder Länder, erschließt uns fremde Welten und Kulturen. Das ist bereichernd und schön. Wer einmal Urlaub gemacht hat, möchte kaum noch ganz darauf verzichten.

Aber der moderne Massentourismus kommt gegenwärtig an seine Grenzen. Touristische Zentren wie Rom oder Venedig ersticken vor lauter Menschen – man steht überall in langen Schlangen an, zwängt sich durch die Sixtinische Kapelle und den Petersdom, drängelt sich durch die engen Gassen Venedigs, und im Markusdom ist in Schlangenlinien eine Einbahnstraße eingerichtet, auf der man sich langsam fortbewegt und nirgends stehenbleiben oder verweilen kann. Man kann die Kunstschätze und Sehenswürdigkeiten gar nicht mehr genießen. Alle wollen an dieselben Ziele, weil man die angeblich gesehen haben muss. Der Tourismus zerstört sich selbst. Man nennt das „Über-Tourismus“ (overtourism).

Die Religionen haben daran keinen geringen Anteil. Man muss einmal in Rom gewesen sein und in Lourdes. Man muss einmal den Jakobsweg gegangen sein. Man muss als guter Muslim einmal im Leben nach Mekka und Medina gepilgert sein. Usw. Historisch gesehen ist der religiöse Tourismus der erste Massentourismus überhaupt gewesen. Wobei das Christentum anders als Judentum und Islam nie ein zentrales Pilgerziel hatte und auch nie eine Pilgerfahrt zur Pflicht gemacht hat. Dennoch ist das Christentum als größte Weltreligion mit einem knappen Drittel der Menschheit gut dabei.

Massentourismus hat enorme ökologische und soziale Folgewirkungen. Da sind Hotels in der Wüste, die den Beduinen und ihren Tieren das Trinkwasser abgraben, damit die TouristInnen im Swimming-Pool baden können. Da werden ganze Berge zu Skipisten planiert und künstlich beschneit, so dass in Österreich zwei Großkraftwerke den gesamten Winter über nur die Energie für die Schneekanonen liefern. Da werden die Strände mit Bettenburgen zugebaut, damit die TouristInnen vom Bett zum Strand nur ein paar Meter gehen müssen. Da werden in den Städten so viele Immobilien für TouristInnen genutzt, dass die Einheimischen keine Wohnung mehr finden (AirBnB lässt grüßen). Und da sind die viel zu vielen Urlaubsflüge, die das Klima kräftig aufheizen. Die Erde erstickt am Tourismus.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Frage ist nicht Urlaub oder kein Urlaub, sondern wie, wie weit und wie oft.

  • Wie: Müssen es die absoluten Highlights sein oder kann man auch an einem weniger spektakulären, aber ruhigeren Ort Urlaub machen? Ich war im vergangenen Sommer mit einem Freund zum Bergsteigen im Oberengadin. Unser Quartier hatten wir am Maloja-Pass, von dem aus wir u.a. Ausflüge ins Bergell machten. Alles total einsam und ruhig und zugleich traumhaft schön. Nur wenige Kilometer entfernt sind Sankt Moritz, Sils Maria und Pontresina. Wir haben diese Orte weitestgehend gemieden. Denn dort war ein Rummel ohne Ende. Die Leute gehen auf die berühmten Namen – dabei wäre es nebenan viel schöner und ursprünglicher. Zugegeben, man muss halt mehr suchen, selber planen und buchen und bekommt nicht alles vorgefertigt. Das Urlaubserlebnis ist aber viel intensiver – und sorgt dafür, dass jene Orte, die sich weigern, gigantische Hotels und Wellnesstempel zu bauen, auch eine Perspektive bekommen.
  • Wie weit: Der Corona-Sommer 2020 hat uns die wunderschönen Ziele in unserer Nähe entdecken lassen. Man muss gar nicht um die halbe Welt fliegen, um ins Paradies zu gelangen. Oft reichen ein paar hundert Kilometer. Wir leben wahrhaft in einer vielseitigen und wunderschönen Weltregion, in der es unendlich viel zu entdecken gibt. Es ist schon paradox, dass nicht wenige Menschen die Urlaubsgebiete am anderen Ende der Welt besser kennen als die im eigenen Land. – Verbunden mit den Fridays for Future könnte Corona uns wieder zu näheren Urlaubszielen animieren.
  • Wie oft: Das ist vielleicht der heikelste Punkt, der auch für mich selber nicht so einfach zu realisieren ist. In den letzten Jahrzehnten hat die Häufigkeit der Urlaube zu- und die Länge des einzelnen Urlaubs abgenommen. Vereinfacht gesagt: Viele fahren dreimal im Jahr eine Woche weg, wo sie früher einmal im Jahr drei Wochen gefahren sind. Das hat verschiedene Auswirkungen. Einerseits verdreifacht sich die Zahl der gefahrenen oder geflogenen Kilometer. Der Urlaubsverkehr wird immer mehr und immer schlimmer. Andererseits sagen die PsychologInnen, dass der Erholungseffekt des Urlaubs frühestens nach einer Woche einsetzt. Wenn aber der Urlaub nur eine Woche dauert, gibt es diesen Effekt kaum, weil die ersten Tage schlicht dazu dienen, vom Alltag abzuschalten und mental im Urlaub anzukommen. Und die letzten Tage eines Urlaubs ist man geistig schon wieder zuhause und im Alltag, so dass auch die abgezogen werden müssen.

Wie, wie weit, wie oft Urlaub machen? Ein Patentrezept gibt es dafür sicher nicht. Aber es lohnt sich, in Zeiten wie diesen darüber nachzudenken. Seien wir ehrlich: In Mitteleuropa ist der Urlaub in den letzten Jahrzehnten zu einem Götzen geworden. Wir führen um ihn einen Tanz auf wie die Israeliten um das Goldene Kalb. Nicht umsonst reichen viele Ehepaare nach dem Urlaub die Scheidung ein. Sie fahren mit viel zu hohen Erwartungen weg, dann kommt es zum Streit und aus dem erwarteten Himmel wird die Hölle. Angesichts dessen sollten wir den Urlaub etwas nüchterner sehen: Es ist eine schöne Zeit, aber nicht das A und O des Lebens. Die entscheidenden Dinge passieren in den elf Monaten daheim.

Die JüngerInnen Jesu können uns da ein Vorbild sein. Sie sind mit Jesus am Palmsonntag als religiöse TouristInnen in Jerusalem eingezogen und haben sich eine der schönsten Zeiten ihres Lebens erwartet. Doch es wurde ein absoluter Albtraum. Erst am Ostertag verstanden sie, was das bedeutet: „Ihr sucht Jesus von Nazaret… Er ist nicht hier… Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen!“ (Mk 16,6-7) Die Ostererfahrungen unseres Lebens machen wir nicht an traumhaften Stränden oder auf berauschenden Berggipfeln. Wir machen sie mitten im grauen Alltag an unserem Wohnort. Daher brauchen wir uns vom Urlaub nicht das ganze Glück des Lebens erwarten – und können es leichter verschmerzen, wenn er einmal ausfallen muss.

Als ich mich von meinem heutigen Ausflug ins Gebirge auf den Rückweg machte, konnte ich eindrucksvoll erleben, wie sehr der gestrige Wetterbericht Recht hatte: Vom Almsee bis Grünau, das an der Pforte ins Gebirge liegt, war traumhafter Sonnenschein. Direkt hinter Grünau aber fuhr ich in eine dichte Nebelwand, die mich bis Linz begleitete. Im Gebirge hatte Südföhn Nebel und Wolken nach Norden geblasen – in der Donauebene regierte der Wind von Norden, der den Norddeutschen heute Abend Eisregen und Schneechaos bringen wird. Ich hoffe dass alle nördlich der Mainlinie gut durchkommen!

In diesem Sinne grüßt herzlich,

Michael Rosenberger