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Pilgern durch die Coronakrise - 7. Mai 2020

Liebe Pilgernden auf dem Camino de Corona,

die Öffnung vieler Beschränkungen nimmt weiter Fahrt auf – und doch bleiben zentrale Hürden aufrecht, von denen sich die EntscheidungsträgerInnen die Verhinderung oder zumindest Begrenzung einer „zweiten Welle“ der Infektionen erhoffen. Es ist eine Hoffnung mit vielen spekulativen Elementen – aber wir haben mit Corona eben noch keine Erfahrungen. Hoffen wir, dass die zentralen Hürden wie die Abstandsregel von der Bevölkerung weiterhin achtsam wahr- und ernstgenommen werden. Davon wird sehr viel abhängen.

In meinen letzten Beiträgen habe ich jeweils eine grundsätzliche Betrachtung zu den politischen Fragen angestellt, die mit Corona verbunden sind. Ich möchte diesen Teil heute abschließen mit einer Betrachtung, die die verborgene Wichtigkeit einer sachgerechten Zuschreibung von Zuständigkeiten thematisiert. Welche politische Instanz ist wofür verantwortlich? Das ist in den Verfassungen unserer Länder eine Festlegung mit enormer Tragweite. Manche ihrer Folgen sehen wir in einer Krise wie der derzeitigen klarer als im Normalbetrieb. Ich beschränke mich in meinen Überlegungen vorwiegend auf den Vergleich zwischen Österreich und Deutschland, mit deren Gemeinsamkeiten und Unterschieden ich am besten vertraut bin. So nah sich diese beiden Staaten auch stehen, sie ticken teilweise ganz anders. Und das hat viel mit über Jahrhunderte gewachsenen und verfassungsmäßig definierten Zuständigkeiten der politischen Instanzen zu tun.

Ein erstes Beispiel: Krankenhäuser der öffentlichen Hand sind in vielen (nicht allen) deutschen Bundesländern Sache des Landkreises. In Österreich (und in einigen deutschen Bundesländern) sind sie Ländersache. Das hat weitreichende Konsequenzen. Ein bayerischer oder baden-württembergischer Landrat ist normalerweise für ein bis zwei Krankenhäuser verantwortlich. Das fördert Kirchturmpolitik pur. Kooperationen mit dem Nachbarlandkreis, um Schwerpunkte aufzubauen und eine optimale Versorgung zu sichern, sind fast unmöglich. Denn ein Landrat, der bestimmte medizinische Fähigkeiten aus dem eigenen Landkreis herausnimmt und an den Nachbarlandkreis abgibt, muss schon extrem fest im Sattel sitzen, damit er die nächste Wahl noch gewinnen kann. Die Folge ist, dass Deutschland zu viele Krankenhäuser hat, die aber zu einem erheblichen Teil ziemlich abgemagert sind („kaputtgespart“). Schauen wir das Gegenmodell an: Ein österreichisches Bundesland plant die Verteilung und Ausstattung von 20 oder 30 Krankenhäusern und ist von einer großen Zahl dieser Häuser selbst der Träger (genauer: eine landeseigene Gesellschaft). Das erlaubt einen Blick über den Tellerrand und eine viel klügere Verteilung der Ressourcen und fördert die standortübergreifende Kooperation. Die Frage, wer die finanzielle und strukturelle Zuständigkeit für die Krankenhäuser hat, hat also erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung des Systems.

Ein zweites Beispiel: Schulschließungen und –öffnungen sind in Österreich Bundessache, in Deutschland hingegen Ländersache. Bis sich die deutschen KultusministerInnen aus 16 Bundesländern geeinigt hatten, wie das Abitur 2020 ausschauen soll und wann die Schulen wieder geöffnet werden sollen, vergingen Wochen. In Österreich wurde der Plan in Ruhe ausgearbeitet und dann für das ganze Land präsentiert. Ja, es stimmt schon, ich überspitze ein wenig. Das österreichische Bildungsministerium musste manche Maßnahmen nachbessern und modifizieren, weil sie auf Widerstand der Schulen stießen. Gleichwohl konnte Österreich seine Maßnahmen im Schulbereich einfacher setzen als die deutschen Bundesländer, denn auch dort wurde manches wieder zurückgenommen (Hessen, Nordrhein-Westfalen), was schon beschlossen und verkündet war.

Ein drittes Beispiel: Die lokalen Gesundheitsbehörden in Tirol waren längst von Island, Norwegen und Schweden gewarnt, dass mehrere rund um Ischgl und den Arlberg Orte Corona-verseucht sind. Dabei wurden sogar präzise einzelne Hotels und Bars genannt, in denen sich der größte Teil der infizierten IsländerInnen oder NorwegerInnen aufgehalten hatte. Doch weil die lokalen und regionalen Behörden des zuständiges Bezirks Landeck mit der örtlichen Tourismuswirtschaft eng verbandelt sind und sich mit ihr nicht anzulegen trauten, ließen sie den Tourismusbetrieb weiterlaufen wie zuvor. Das scheint deswegen so bemerkenswert, weil das Gesundheitsamt des Bezirks Innsbruck zur gleichen Zeit auf gleiche Hinweise auf Island mit der sofortigen Schließung des betreffenden Hotels reagierte. Die ungleichen Maßnahmen sollen daher in einem Untersuchungsausschuss des Tiroler Landtags aufgeklärt werden, denn das Landecker Zuwarten gehört sicher zu den folgenreichsten Entscheidungen in der bisherigen Krise. Letztlich wird es aber nur eine Lösung geben, wenn man auch die Frage zulässt, ob die Zuständigkeit auf der richtigen Ebene angesiedelt ist.

Sicher könnte man die Analyse der Zuständigkeiten und ihrer Auswirkungen in der Coronakrise noch viel weiter treiben. Nach Corona sollte man das dringend tun und die Strukturen reformieren, wo es sich als nötig erweist. Der Habsburgische Zentralismus, der in der Republik Österreich auch nach zwei Weltkriegen und über einhundert Jahren weiterlebt, ist ja nicht nur positiv, und der deutsche Föderalismus nicht nur negativ. Auf der einen Seite konnte Österreich in der Coronakrise schneller und effizienter handeln, und die getroffenen Entscheidungen waren den Menschen leichter nahezubringen, weil man nicht auf das Nachbarbundesland verweisen konnte, wo alles  ganz anders ist. Auf der anderen Seite ist Österreich viel autoritätshöriger, weit weniger debattenfreudig, und das ist für eine Demokratie allemal ein erheblicher Nachteil. Außerdem ist der österreichische Zentralismus gepaart mit einer vergleichsweise hohen Machtbefugnis der BürgermeisterInnen und der lokalen Behörden, die mehr Macht haben als in Deutschland. Das ist auch jenseits der Gesundheits- und Sozialagenden nicht immer nur positiv.

In der christlichen Sozialethik sprechen wir seit den großen lateinamerikanischen Bischofskonferenzen der 1960er Jahre von „Strukturen der Sünde“. Außer Papst Benedikt haben sich die letzten Päpste diesem Analyseinstrument angeschlossen. Es will sagen: Manchmal sind nicht die handelnden Personen das Problem, sondern die Entscheidungswege und –strukturen. Und wenn das so ist, muss man die Strukturen verändern und nicht an die Personen appellieren. – Dass eine Strukturveränderung eine Herkulesaufgabe ist, liegt auf der Hand. Zu viele verlieren dabei einen Teil ihrer Macht. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland sind Versuche zu einer Neuordnung der Kompetenzen in den letzten Jahren gescheitert oder im Sand verlaufen (Föderalismusreform, Verfassungskonvent etc.). Insofern wäre Corona eine Chance: Jetzt erleben wir ohnehin einen massiven Einschnitt. Und wir sehen manche Stärken und Schwächen der jetzigen Kompetenzverteilung viel klarer als zuvor. Insofern hoffe ich, dass eine gut durchdachte und gründlich diskutierte Strukturreform der staatlichen Kompetenzen zu den Früchten dieser Krise gehört. Wir alle können schon zu überlegen beginnen, wo wir Änderungsbedarf sehen.

Mit diesen Impulsen beende ich meine Überlegungen zu grundsätzlichen Anfragen an Politik und Gesellschaft. Ab dem nächsten Rundbrief werde ich mit einigen historischen Erkenntnissen beginnen. Denn auch aus der Geschichte können wir viel über die gegenwärtige Pandemie lernen.

Zuvor wünsche ich allen Freude an neu gewonnenen Freiheiten, aber auch Besonnenheit im Umgang mit diesen. Herzliche Grüße,

Michael Rosenberger