Liebe geduldig Wandernden durch die finstere Corona-Schlucht,
diesmal wird es sehr eng werden! Österreich hat aktuell dreimal so viele Neuinfektionen pro Tag und 1 Mio. Menschen wie Deutschland und mehr als Frankreich, Italien und Spanien. Damit hat sich Österreich unter den westeuropäischen Ländern ganz anders als bei der ersten Welle zu einem der Hotspots entwickelt. Die BeNeLux-Staaten liegen noch weiter vorne, und auch die Schweiz hat doppelt so viele Infektionen wie Österreich. Gleichwohl hält in Österreich nur das sehr gute Gesundheitssystem die Zahl der Corona-Toten noch in engen Grenzen. Ich betone: Noch! Denn 6000 Neuinfektionen pro Tag waren von der Regierung seit Wochen als Limit genannt worden, ab dem das Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenzen kommen wird. Diese Zahl ist jetzt überschritten – und das lässt ahnen, was in zwei bis drei Wochen auf uns zukommt, denn das ist die Zeitverzögerung von der Infektion bis zum Eintreffen in der Intensivstation. Die Krankenhausseelsorge bereitet sich jedenfalls mental schon darauf vor, dass dann die Triage angewandt werden muss, also die Entscheidung, wer von mehreren PatientInnen den einzigen verfügbaren Beatmungsplatz bekommt und wer nicht. Wir werden von Glück reden können, wenn diese furchtbare Situation noch vermieden werden kann. Es wäre wirklich haarscharf. Ja, diesmal hat die österreichische Bundesregierung für meine Begriffe eine Woche zu lang gewartet, bis sie zum Lockdown light gekommen ist. Eine Woche, das ist für uns eine kurze Zeit, für das Virus aber eine Ewigkeit, um sich munter zu vermehren.
In diesen Wochen höre ich im Fernsehen immer wieder die Frage von JournalistInnen, welche langfristige Strategie die Politik denn habe. Manchmal wird aus der Frage auch der Vorwurf, die Politik habe keine Langfriststrategie. Was ist davon zu halten? Der Feststellung, die Politik habe keine Langfriststrategie, kann ich nur zustimmen. Ich jedenfalls sehe sie nicht. Aber der in dem Vorwurf enthaltenen Bewertung stimme ich ganz und gar nicht zu. Nein, das ist kein schuldhaftes Versäumnis. Es kann eine Langfriststrategie nicht geben, und das hängt mit dem Thema meines letzten Rundbriefs durchaus zusammen. Langfriststrategien sind dort möglich, wo es erstens eine überschaubare Zahl von Szenarien gibt, und zweitens viele Werkzeuge zur effektiven Steuerung zur Verfügung stehen. Beides ist in der Pandemie nicht der Fall:
Die denkbaren Szenarien sind Legion. Wenn uns das Coronavirus eines bewiesen hat, dann, wie unterschiedlich es sich zeigt: Die einen infiziert es mit voller Wucht und macht sie zu Superspreadern, die anderen infiziert es gar nicht (und wir wissen derzeit nur sehr ungefähr, wer zu den einen und wer zu den anderen gehören könnte). Die einen haben einen extrem schweren Krankheitsverlauf, bei anderen fällt er sehr mild aus (und wieder wissen wir nur sehr ungefähr, wer zu den einen und wer zu den anderen gehören könnte). Auch die Mutationen des Virus, die den VirologInnen unter dem Mikroskop begegnen, sind offensichtlich recht vielfältig (man denke nur an die Mutation aus dänischen Nerzfarmen, die vorgestern bekannt wurde und jetzt die Schlachtung hunderttausender Nerze zur Folge hat).
Ein zweiter Unsicherheitsfaktor denkbarer Szenarien sind wir, die Menschen. In den ersten Monaten waren wir sehr diszipliniert. Mittlerweile ist zumindest bei einem relevanten Teil (10 oder 20%) der Menschen eine große Laxheit, wenn nicht Aufsässigkeit gegen die Regeln eingetreten. Wird sich das wieder ändern, wenn auch bei uns die Särge mit Lastwagen weggefahren werden? Und wenn ja, wie lange wird dann das Bemühen anhalten? Die ItalienerInnen, denen wir Deutschsprachigen das kaum zugetraut hätten, waren von März bis Oktober extrem diszipliniert. Aber gegenwärtig bricht ihre Moral und ihr Durchhaltevermögen massiv ein. Hat das irgendjemand seriös vorausberechnen können? Und könnte man es in Deutschland oder Österreich? Hätte man evtl. sogar Mittel, um das Durchhaltevermögen zu stärken?
Schließlich der dritte Unsicherheitsbereich: Die medizinischen Möglichkeiten. Was hat man im März oder April nicht an Hoffnungen auf Remdesivir gesetzt – und jetzt erweist es sich als völlig unwirksam. Auch was die Impfstoffe angeht, mahnen die Fachleute schon länger vor zu großen Hoffnungen. Wir können froh sein, wenn ein Teil von ihnen wirksam ist, geringe Nebenwirkungen hat und einen Teil der Geimpften (!) nachhaltig schützt. Wieder wüssten wir womöglich nicht, wer zu den wirksam Geimpften gehört und wer zu den unwirksam Geimpften.
Und eine letzte Unsicherheit ist wiederum der Mensch: Die Umfragen, wie viele Menschen sich freiwillig impfen lassen würden, schwanken gewaltig. Solange die Politik also von der Freiwilligkeit ausgeht (was ich grundsätzlich richtig finde), kann sie kaum berechnen, welche Erfolge die Impfung haben wird.
Angesichts solcher Überlegungen ist das technokratische Denken der Moderne schlichtweg heillos unterkomplex. Es suggeriert, dass ein Problem mit einer einzigen Maßnahme zu lösen wäre. Die Wirklichkeit ist aber, insbesondere wo es um biologische Sachverhalte geht, viel komplexer. In den letzten Wochen hören wir daher immer häufiger den Satz: „Wir müssen mit dem Virus leben lernen – auch wenn Impfstoffe da sein werden!“ Genau so wird es sein. Gewiss, Impfstoffe machen es leichter, mit dem Virus zu leben. Aber eine „Ausrottung“ des Virus wird es noch lange nicht geben.
Wir sollten uns an ein einfaches Beispiel erinnern: Am 18. April 1801 hatte Johann Friedrich Küttlinger erfolgreich eine Pockenimpfung bei dem Sohn des Schulleiters Degen im mittelfränkischen Neustadt an der Aisch durchgeführt. Die Impfung ist also über 200 Jahre alt – und sie wirkt viel besser als man das derzeit von den Corona-Impfstoffen erwartet. Trotzdem wurde ein konsequentes Impf- und Bekämpfungsprogramm erst Mitte des 20. Jh. von der WHO und anderen Gesundheitsorganisationen begonnen. Und dann dauerte es nochmals Jahrzehnte, bis die WHO am 8. Mai 1980 die Welt für pockenfrei erklären konnte.
Wohlgemerkt: Pocken werden nicht vom Tier auf den Menschen übertragen oder umgekehrt – Corona schon! Wenn also schon die Bekämpfung der viel leichter berechenbaren Pockenkrankheit Jahrzehnte dauerte (rechnen wir mal nur von den 1950er Jahren an), dann ahnen wir die notwendigen Zeiträume für die Bekämpfung von Covid-19. Innerhalb dieser Zeiträume wird es immer wieder Infektionswellen geben, trotz vorhandener und angewandter Impfungen.
Meinesteils wäre ich schon zufrieden, wenn am Ende des nächsten Jahres die Risikogruppen und die Gesundheitsberufe vollständig geimpft sind und die Impfung bei der Hälfte von ihnen gut wirkt. Dann könnten wir auf der Grundlage sich weiter verbessernder Schnelltests die Vorsichtsmaßnahmen deutlich lockern. Denn eine Erkrankung der übrigen Bevölkerung hätte womöglich keine so schwerwiegenden Folgen (womöglich, denn derzeit mehren sich Hinweise auf gravierende Langzeitfolgen zunächst mild verlaufender Corona-Erkrankungen – ein weiterer Unsicherheitsfaktor). Aber auch wenn das so käme, würden ab und zu weitere Corona-Wellen durchs Land gehen und vorübergehend strengere Regeln erfordern.
Nein, eine Langfriststrategie scheint mir nicht seriös zu machen. Wir werden lernen müssen, mit den coronabedingten Unsicherheiten längerfristig zu leben. Das wäre dann die einzige seriöse Langfriststrategie: Gemeinsam „Sozialtechniken“ zu entwickeln, die uns diese Unsicherheiten erträglicher machen. Die Religionen haben dies seit je als ihre Aufgabe verstanden. Eine solche „Sozialtechnik“ ist das Gebet (das natürlich weit mehr ist als eine Technik, denn da wären wir wieder beim technokratischen Paradigma, aber es ist eben auch „Technik“, die man lernen kann und muss und die geübt sein will). Und so schließe ich mit verschiedenen Übersetzungen des wunderbaren Verses 4 aus Psalm 23:
„Auch wenn ich gehen muss durch die Todesschattenschlucht, fürchte ich nichts Böses, denn du bist bei mir, dein Stab, deine Stütze – die trösten mich.“ (Martin Buber 1958)
„Auch dann, wenn ich durch eine Nacht muss (meine Nacht), gerade dann habe ich keine Angst. Vor nichts. Denn es ist einer bei mir: Und das bist du. Du gehst mir voraus.“ (Arnold Stadler 1999)
„Muss ich in den Abgrund, die Todesschlucht, dann packt mich Angst – bist du bei mir, werde ich nicht sterben vor Angst.“ (Huub Oosterhuis 2015)
„Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.“ (Einheitsübersetzung 2016)
„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ (Lutherbibel 2017)
In diesem Sinne wünsche ich von Gott gesegnete und behütete Schritte,
Michael Rosenberger