Liebe Pilgernden mit dem Ziel vor Augen,
der Weg vom Monte de Gozo hinab zum Pilgerziel beim „wahren Jakob“ geht weiter. Die Infektionszahlen sinken unbeirrbar und deutlich, fast ohne dass wir uns anstrengen müssen, und das in Deutschland, Österreich, Italien und vielen anderen Ländern. Schon die 30 Prozent Erstgeimpften, die wir diese Woche überschritten haben, bremsen das Virus ganz gewaltig. Genau so haben es sich die Virologen seit der Zulassung der Impfstoffe im November für diesen Mai vorgestellt, und ihre Prognosen stimmen messerscharf. Dennoch dürfen wir jetzt nicht leichtsinnig werden. In unseren Gottesdiensten mit vorwiegend älterem Publikum können wir uns zwar schon recht gut entspannen. Aber besonders dort, wo viele junge Menschen zusammenkommen, ist der Impfschutz noch sehr gering. Unsere Geduld ist also weiterhin dringend gefragt.
Spektakulär war diese Woche vor allem eine Nachricht aus Washington: US-Präsident Joe Biden hat sich am Mittwoch nach einer Rede im Weißen Haus für eine befristete Aufhebung des Patentschutzes für Covid-19-Impfstoffe als Ausnahmeregelung ausgesprochen. Biden unterstützt damit den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei der Welthandelsorganisation (WTO) vorgelegten Vorschlag, auf die geistigen Eigentumsrechte für die Vakzine vorübergehend zu verzichten. Es handle sich um eine globale Gesundheitskrise, und außergewöhnliche Umstände verlangten nach außergewöhnlichen Maßnahmen. Sofort verloren die Aktien der Impfstoffhersteller zwischen zehn und zwanzig Prozent ihres Wertes. – Nun ist vollkommen klar, dass die Aufhebung des Patentschutzes nicht die Lösung aller Probleme ist, sondern nur ein Baustein in dem gigantischen Projekt, die gesamte Weltbevölkerung zu impfen. Ein anderer, der Export von Impfstoff aus den Industrieländern in die armen Länder, bringt weitaus schneller Hilfe. Und da stehen die USA anders als die EU weiter auf der Bremse – während die EU fast gleich viel Impfstoff exportiert wie sie selbst für sich verbraucht, geben die USA praktisch gar nichts her. Aber jetzt wie Merkel und Macron die Aufhebung des Patentschutzes rundheraus abzulehnen geht überhaupt nicht. Die Impfstoffhersteller haben alle schon jetzt hervorragende Gewinne gemacht und ihre Entwicklungskosten wieder hereingespielt. Sie werden nicht daran zugrunde gehen, wenn sie von armen Ländern keine Lizenzgebühren bekommen. Gesundheit ist, wie die Ökonomen sagen, kein marktförmiges Gut, weil man sie nicht tauschen kann wie eine Jacke oder ein Auto. Insofern ist es richtig und angebracht, in der allgemeinen Notlage der Pandemie der Marktwirtschaft Grenzen zu setzen.
In dieser Woche möchte ich auch an ein kirchlich besonders wichtiges Gedenken erinnern: Vor 25 Jahren, am 6. Mai 1996, ist Kardinal Leo Suenens, belgischer Primas und Erzbischof von Mecheln, gestorben. Wie Kardinal Julius Döpfner war er einer der vier Moderatoren des II. Vatikanischen Konzils und wurde als solcher für seine Verdienste 1982 zum Ehrendoktor der Universität Würzburg ernannt. Ich kann mich noch gut an diese Feier erinnern, die ich als junger Student miterleben durfte. Suenens war wie Döpfner ein unermüdlicher Reformator. Als Papst Paul VI. die Enzyklika Humanae vitae veröffentlichte und künstliche Verhütungsmittel pauschal verbot, startete Suenens in einem Interview, das in fünf Sprachen übersetzt wurde, einen Frontalangriff auf die römische Kurie. So scharf habe „in den vergangenen 100 Jahren kein anderer Kardinal“ den Papst kritisiert, schrieb der „Spiegel“ im Juni 1969. Humanae vitae gilt bis heute als Wendepunkt. Mit dieser Enzyklika, für die eine Kommission unter Leitung von Kardinal Döpfner einen völlig anderen Entwurf geschrieben hatte, zeigte die römische Kurie, dass sie die Neuerungen des Konzils wieder zurückdrehen wollte und konnte.
Schließlich ein letzter Hinweis in eigenes Sache. Gestern erschien in der Katholischen Nachrichtenagentur KNA eine sehr schöne Rezension meines neuesten Buchs „Was der Seele Leben schenkt“ aus der Feder von Angelika Prauß. Ich empfehle sie allen zur Lektüre: www.domradio.de/themen/glaube/2021-05-07/eintauchen-eine-tiefere-wirklichkeit-moraltheologe-ueber-spiritualitaet-jenseits-aller .
Nachdem ich letzte Woche von Johannes zu Lukas geschwenkt bin, kehre ich jetzt bis Pfingsten zu Johannes zurück und setze bei den Begebenheiten fort, die für die Zeit nach dem Ostertag erzählt werden.
Aus dem Evangelium nach Johannes
20, 19 Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! 20 Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. 21 Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. 22 Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! 23 Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.
24 Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. 26 Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! 27 Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
Der grausame und qualvolle Tod Jesu, so erzählen die Evangelien, hat die Herzen der JüngerInnen zunächst einmal fest verschlossen. So tief sind sie enttäuscht und schockiert, dass sie sich einsperren und verschließen – physisch in ihren Wohnhäusern, psychisch in ihren Herzen. Wir kennen das aus der Trauma-Forschung. Traumatisierte Menschen verdrängen das furchtbar Erlebte so sehr, dass sie sich oft nicht einmal daran erinnern, geschweige denn darüber reden können. Im Zuge des Missbrauchsaufarbeitung haben wir erkennen müssen, dass es oft Jahrzehnte dauert, bis die Opfer zu sprechen beginnen. Und das ist nicht nur bei Missbrauch so. Diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg Schreckliches erlebt hatten, haben sich ebenfalls erst nach Jahrzehnten geöffnet – wenn überhaupt.
Insofern müssen wir die Zeitangaben der Evangelien sehr großzügig auslegen. Was hier vom Abend desselben Ostertages erzählt wird und vom Sonntag eine Woche später, ist in Wirklichkeit vielleicht erst Jahre oder Jahrzehnte später passiert. Auch der Auferstandene kann die Naturgesetze unserer Psyche nicht außer Kraft setzen. Doch irgendwann haben die JüngerInnen die Befreiung aus ihrem inneren Gefängnis gespürt. Irgendwann konnten sie über ihre Erfahrungen reden. Und diese Befreiung schreiben sie dem auferstandenen Jesus zu. „Er ist bei verschlossenen Türen zu uns gekommen“, sagen sie, „er kann alle Verschlossenheit unseres Herzens überwinden!“ Was das im umfassenden Sinn bedeutet, können womöglich nur jene begreifen, die selbst einmal schwer traumatisiert waren. Es ist gigantisch. Etwas Größeres ist kaum denkbar.
Einmal ins Herz der Traumatisierten eingetreten, zeigt der Auferstandene seine Wundmale. Nicht ein Gesunder kommt zu den Geschundenen, sondern einer, der Vergleichbares erlebt hat. Nicht ein Unberührter tritt in die verletzten Herzen ein, sondern ein zutiefst Verwundeter. So erwächst eine tiefe Solidarität. Auferstehung, so sagt uns Johannes, heißt nicht die Beseitigung der Verletzungen, sondern ihre Überwindung; nicht ihr Verstecken und Verschweigen, sondern ihre Verwandlung und Verklärung. Die Verletzungen des Lebens gehören zu uns dazu, und sie sind schlimm. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Doch wir können lernen, mit ihnen zu leben, sie anzunehmen und sogar fruchtbar zu machen, indem wir einfühlsamer und aufmerksamer mit unseren Mitmenschen und mit der Schöpfung umgehen. Verletzungen können die Quelle des Heils werden – und nur sie!
Thomas ist nicht unter denen, die das als erste verstehen. Er kann seine eigenen Wunden noch nicht anschauen und akzeptieren. Er braucht noch mehr Zeit, um sich zu öffnen. Doch scheint er immerhin eine Sehnsucht danach zu spüren, die Wunden Jesu zu berühren. Irgendwann, ob eine Woche oder mehrere Jahre später, begreift er, dass Jesus ihm das freistellt und anbietet. Doch genau in dem Moment braucht er es nicht mehr. Es genügt ihm das Angebot, dann kann er wie Maria Magdalena auf die Berührung Jesu verzichten und doch glauben.
Dass auch wir das Wunder erfahren dürfen, dass unsere Wunden zur Quelle des Heils werden, wünscht,
Michael Rosenberger