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Von Professor Dr. Michael Rosenberger

Wallfahrt als Reise zu sich selbst?

Der Sommer ist die beliebteste und meistgenutzte Reisezeit. Reisen haben vielfältige Bedeutung: Sie ermöglichen Abwechslung vom Alltag, Erholung von der Arbeit, aber auch Innehalten, Nachdenken und Neuorientieren des eigenen Lebens. Schließlich können Reisen, wenn man den Raum dafür bereitstellt und die Aufmerksamkeit darauf richtet, der Selbstfindung dienen: Unterwegs in ungewohnter Umgebung und mit größerer Freiheit kann der Mensch leichter sich selbst finden als im hektischen und oft automatisiert dahinlaufenden Betrieb des Alltags. Was für Reisen generell zutrifft, gilt erst recht für die Wallfahrt. Sie zielt ja direkt und ausdrücklich auf diese Reise ins eigene Innere. Sie stellt dafür Zeiträume bereit und richtet darauf ihre Aufmerksamkeit. Wer als Pilgerin/Pilger unterwegs ist, will sich selbst suchen und finden – und in seinem tiefsten Inneren den lebendigen Gott.

Wohl niemand hat das spirituelle Leben so eindrücklich als Reise zu sich selbst beschrieben wie der frühere UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905-1961). Einer der berührendsten Einträge in seinem geistlichen Tagebuch lautet:

„Die längste Reise
ist die Reise nach innen.
Wer sein Los gewählt hat,
wer die Fahrt begann
zu seiner eigenen Tiefe
(gibt es denn Tiefe?) –
noch unter euch,
ist er außerhalb der Gemeinschaft,
abgesondert in eurem Gefühl
gleich einem Sterbenden
oder wie einer, den der nahende Abschied
vorzeitig weiht
zu jeglicher Menschen endlicher Einsamkeit.

Zwischen euch und jenem ist Abstand,
ist Unsicherheit –
Rücksicht.

Selber wird er euch sehen
abgerückt, ferner,
immer schwächer eures Lockrufs
Stimme hören."

(Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg, Neuausgabe 2011, 97)

Man spürt, dass die Spiritualität Hammarskjölds sehr anspruchsvoll, man könnte auch sagen: elitär, ist. Für ihn ist der Weg nach innen ein einsamer Weg, den nur wenige Menschen gehen. Wer tiefer und tiefer in sein innerstes Heiligtum vordringt, der entfernt sich damit mehr und mehr von den Mitmenschen. Er ist ganz auf sich selbst zurückgeworfen und muss die Einsamkeit aushalten, um wirklich sich selbst finden zu können.
Der Impuls Hammarskjölds warnt uns davor, die Reise nach innen zu romantisch zu verklären und zu einfach zu verharmlosen. Diese Reise riskiert viel, denn der Reisende kann sich auf dem Weg nach innen verlieren. Sie ist gefährlich und schwer, denn auf dem Weg nach innen gibt es viele Hindernisse. Und sie ist unendlich lang – länger als die längste Wallfahrt sein kann. Und doch scheint mir die Sicht Hammarskjölds eine zweite Seite zu verschweigen, die er vielleicht auf Grund seines Charakters und seiner Biografie nicht so deutlich wahrnehmen konnte: Wer sich seinem Innersten annähert und darin den „Intimus seines Herzens" (Aurelius Augustinus) findet, kann sich der Welt und den Mitmenschen neu nähern. Er wird ihnen anders, nämlich intensiver und offener begegnen. Das gilt nochmals besonders für die Begegnung mit jenen Menschen, die ebenfalls die Reise nach innen angetreten haben. Mit ihnen können sich ein tiefes Verständnis und eine beeindruckende Verbundenheit entwickeln. Wer in den Abgrund seines Herzens geschaut hat, ahnt bei allem Respekt und aller ehrfürchtigen Scheu, wie der Mitmensch in sein eigenes Herz geschaut hat.
Tatsächlich ist die Wallfahrt eine herausragende Chance für die Reise nach innen. Das bedingt aber eine entsprechende Gestaltung, die diese Innerlichwerdung ermöglicht und fördert. Erstens müssen geistliche Impulse zum eigenen Suchen und Nachdenken anregen. Sie dürfen selbst nicht an der Oberfläche bleiben, sondern müssen aus der Erfahrung der eigenen Tiefe des Wallfahrtsführers kommen. Zweitens müssen stille Zeiten Raum zum In-sich-Gehen bieten – wo ständig gebetet oder geredet wird, kann keine Innerlichkeit wachsen. Drittens sollten auch die Gebete eine Innerlichkeit haben, die die Pilgernden wie von selbst in ihr Inneres einführt. Und viertens könnte das Angebot begleitender geistlicher Gespräche helfen, dass Menschen auch verstehen, was sie auf der Reise nach innen erleben.
Die Reise nach innen ist – da stimme ich Hammarskjöld voll und ganz zu – ein sehr anspruchsvolles Unternehmen. Umso mehr muss eine Wallfahrt, die Menschen zu dieser Reise nach innen motivieren will, ebenfalls anspruchsvoll gestaltet sein. Ein Wallfahrtsbegleiter, der selbst keine Innerlichkeit kennt, wird dies nicht leisten können.
So möchte ich meine Überlegungen ausnahmsweise mit einem Gebet schließen, das nochmals aus der Feder von Dag Hammarskjöld stammt:

„Ich warte auf dich, erwartungsvoll.
Du kommst auf mich zu, und ich lasse mich von dir tragen.
Ich beginne die Reise nach innen.
Ich reise in mich hinein zum innersten Kern meines Seins,
wo du wohnst.
An diesem tiefsten Punkt meines Wesens
bist du immer schon vor mir da,
schaffst, belebst, stärkst ohne Unterlass meine Person.

Gott, du bist lebendig, du bist in mir.
Du bist jetzt. Du bist hier. Du bist.
Du bist der Grund meines Seins. Ich lasse los.
Ich sinke und versinke in dir.
Du überflutest mein Wesen. Du nimmst von mir Besitz."