Hinweis

Ihre Browserversion wird leider nicht mehr unterstüzt. Dies kann dazu führen, dass Webseiten nicht mehr fehlerfrei dargestellt werden und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Wir empfehlen Ihnen, Ihren Browser zu aktualisieren oder einen der folgenden Browser zu verwenden:

Von Professor Dr. Michael Rosenberger

Wallfahrt als Therapieersatz?

In Lourdes, dem größten Wallfahrtsort Europas, zu dem jährlich mehrere Millionen Menschen pilgern, haben sich in den rund 150 Jahren seines Bestehens genau 66 von der katholischen Kirche anerkannte Heilungswunder ereignet. Für direkt körperliche Therapien hat das Wallfahren also eine ziemlich schlechte Erfolgsquote. Aber vermutlich zielt die gestellte Frage auch nicht auf Körpertherapien, sondern auf seelische Heilung. Psychische und spirituelle Leiden machen heute einen erheblichen Teil aller Erkrankungen aus. Kann das Pilgern zu deren Heilung etwas beitragen?

Natürlich hängt die Antwort auf diese Frage teilweise davon ab, welche Ursache hinter einer seelischen Erkrankung steht. Ist diese endogen, also vom Erbgut beeinflusst, kann eine Wallfahrt deutlich weniger helfen als wenn die Erkrankung exogen, d.h. von lebensgeschichtlichen Faktoren beeinflusst ist. Meistens spielen bei seelischen Erkrankungen biologische und lebensgeschichtliche Faktoren zusammen. Dann kann das Pilgern umso mehr helfen, je größer der exogene, biografisch bedingte Anteil einer Erkrankung ist.

Wie kann man sich das vorstellen? Auf welche Weise kann eine Wallfahrt heilende Wirkung entfalten?

Indirekt somatisch, also über den Körper: Leib und Seele stehen in einem intensiven Wechselverhältnis zueinander. Körperliches Wohlbefinden wirkt positiv auf die Seele ein, und seelisches Wohlbefinden positiv auf den Körper. Evidenzbasierte Studien zeigen eindeutig, dass das langsame, gleichmäßige Gehen eine signifikante psychotherapeutische Wirkung auf zahlreiche psychische Erkrankungen ausübt. Insbesondere bei Depressionen und Erkrankungen im Bereich des Burnout-Syndroms wird dem Gehen eine hohe Heilwirkung zugeschrieben. Auch das Sonnenlicht, dem Pilgernde mehr ausgesetzt sind als die meisten Menschen im Berufsalltag, wirkt vielfach heilend auf die Psyche.

Direkt mental durch Einfluss auf die Gedanken: Psychische Erkrankungen haben nicht selten eine Ursache in falschen Wahrnehmungen und Lebenseinstellungen. Das intensive Nachdenken beim Pilgern kann daher ebenfalls heilsame und heilende Prozesse auslösen. Es kann biblische Modelle dafür erschließen, wie Menschen mit ihren seelischen Verletzungen und Empfindsamkeiten so umgegangen sind, dass sich ihnen neue Wege öffneten. Es kann Gott ins Spiel bringen in Lebensbereichen, wo jemand ihn bisher nicht spüren konnte. So kann es neue Perspektiven öffnen, mit anstehenden Problemen anders und freier umzugehen. Seelsorgliche Gespräche unterwegs können diese Prozesse noch verstärken.

Ganzheitlich im Einüben neuer Lebenshaltungen: Die Wallfahrt bietet die Möglichkeit, Tag für Tag neue Grundhaltungen einzuüben, die ein/eine Pilger/in bisher noch nicht oder nur wenig entfaltet hat. Ich denke an die Haltungen der Gelassenheit, wenn der Weg anders verläuft als erwartet; des Vertrauens, dass man jeden Abend ein gutes Essen und ein warmes Bett bekommt; der Demut, wenn die Schritte müde werden oder die Knie schmerzen; der Dankbarkeit, wenn man auf dem Weg etwas Schönes erlebt; der Empathie und Solidarität, wenn jemand Hilfe und Unterstützung braucht usw. Neue Lebenshaltungen öffnen die Seele, erleichtern ihre Lasten und ermöglichen positivere Schritte in die Zukunft.

Kein Zweifel also: Wallfahren hat heilende Potenziale. Aber: Wallfahren ist kein Therapieersatz! Die Bemühungen eines Psychotherapeuten kann es ebenso wenig ersetzen wie die Medikamentenverordnungen eines Psychiaters. Der Mensch ist ein ungeheuer komplexes Wesen, in dem viele Faktoren wirksam sind. Daher können viele Krankheiten, insbesondere seelische, auch nur mit mehreren verschiedenen Mitteln geheilt werden. Eines davon kann die Wallfahrt sein – als wichtiger Baustein einer Therapie (was viele Psychotherapeuten/innen noch lernen müssen) oder als hilfreiche Ergänzung zu ihr. Aber nicht als deren Ersatz.