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Eine Antwort von Professor Dr. Michael Rosenberger

Warum ist das Interesse an Wallfahrten so groß?

Wallfahren hat einen ungeheuren Imagewandel durchgemacht: Was vor wenigen Jahrzehnten noch als erzkatholisch und veraltet galt, weckt heute Neugier und Lust – weit über den Bereich der katholischen Kirche hinaus. Und das in einer Zeit, in der die meisten Ausdrucksformen des Glaubens eher schwindendes Interesse erfahren.

Woran liegt es, dass Wallfahren gerade heute solchen Zuspruch erfährt? Ist es Zeichen für eine neue Religiosität in den Herzen der Menschen? Sind alle besonders religiös, die auf Wallfahrt gehen? Der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette nennt als Motive der Wallfahrt eher säkulare Gründe:

  • In einer Zeit, in der wir uns gegen alle Risiken bestmöglich absichern, wird es uns zunehmend langweilig. Wir suchen nach neuen, reizvollen Wagnissen.
  • In einer Zeit, in der wir die Abläufe unseres Alltags immer weniger selbst unter Kontrolle haben und zunehmend fremdgesteuert werden, suchen wir nach Möglichkeiten, etwas ganz selbst zu gestalten.
  • In einer Zeit, die uns zunehmend dem unmittelbaren Naturerleben entzieht, suchen wir die Nähe zur Natur.
  • In einer Zeit, die immer stärker zur Anonymisierung des Einzelnen in der Masse tendiert, suchen wir nach Möglichkeiten, ganz individuell zu sein, unverwechselbar. Wir wollen anderen sagen können: „Das habe ich geschafft!“
  • In einer Zeit, die sich immer stärker virtuell über elektronische Kommunikationsmedien vollzieht, suchen wir leibhaftige, am eigenen Körper spürbare Erfahrungen.

Wagnis, eigenständige Lebensgestaltung, Naturerleben, Selbstverwirklichung und leibhaftige Erfahrung – all das kann das Pilgern auf ideale Weise vermitteln. Insofern wundert der Zustrom der Menschen zu Wallfahrten genau besehen nicht. Und man muss offenbar nicht unbedingt sehr religiös sein, wenn man sich auf eine Wallfahrt begibt. Die Menschen suchen zunächst einmal nach dem eigenen Selbst. Sie wollen sich selbst erfahren, sich selbst finden, ihren Lebensweg neu orientieren. Doch ein faszinierendes Phänomen ist, dass man faktisch „religiöser“ wird, wenn man sich innerlich offen auf einen Wallfahrtsweg begibt – das belegen verschiedene empirische Untersuchungen. Ganz offenkundig hat die Suche nach dem eigenen Selbst (theologisch würden wir sagen: Die Suche nach der eigenen Berufung!) viel mit der Suche nach Gott zu tun.

Deshalb würde ich die säkularen Motive vieler Menschen für ihr Pilgern auch nicht negativ bewerten. Sie spiegeln ja berechtigte Anliegen des Menschseins. Aber die Herausforderung bei der Gestaltung einer Wallfahrt wird es dann eben sein, diese Anliegen in die nötige Tiefe zu führen und die Wallfahrtserfahrungen aufzuschließen für das große Geheimnis, das unser Leben trägt und das wir ChristInnen „Gott“ nennen.