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Von Professor Dr. Michael Rosenberger

Wie können Wallfahrten das „Heilige Jahr der Barmherzigkeit" aufgreifen?

Am 11. April diesen Jahres hat Papst Franziskus ein Heiliges Jahr der Barmherzig-keit ausgerufen, das am 8. Dezember, genau 50 Jahre nach dem Ende des II. Vatikanischen Konzils, beginnt und bis zum Christkönigsfest 2016 dauert.

Papst Franziskus erinnert daran, dass die Idee der Barmherzigkeit die Leitidee des II. Vatikanischen Konzils war. So sagte Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Konzils: „Heute dagegen möchte die Braut Christi lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffen der Strenge. [...] Die katholische Kirche... will sich damit als eine sehr liebevolle, gütige und geduldige Mutter aller erweisen, voller Erbarmung und mit Wohlwollen für ihre Kinder, die von ihr getrennt sind." Und Paul VI. sagte zum Abschluss des Konzils: „Die uralte Erzählung vom barmherzigen Samariter wurde zum Paradigma für die Spiritualität dieses Konzils. [...] Eine Woge der Zuneigung und der Wertschätzung für die moderne Welt ging von diesem Konzil aus. Natürlich werden die Irrtümer abgelehnt... Aber für die Menschen gibt es nur Ermutigung, Respekt und Liebe." (vgl. Misericordiae Vultus = MV 4)

Barmherzigkeit meint in der jüdisch-christlichen Tradition keine herablassende Geste, sondern ein tiefes inneres Mitgefühl mit den Hilfsbedürftigen und schuldig Gewordenen. Das Evangelium der Barmherzigkeit ist das Lukasevangelium. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt es uns, was Barmherzigkeit mit den Hilfsbedürftigen meint (Lk 10). Im Gleichnis vom barmherzigen Vater macht es deutlich, wie Barmherzigkeit den Sünderinnen und Sündern begegnet (Lk 15). Und immer geht es da-rum, dass wir zuerst die Barmherzigkeit Gottes an uns erfahren, die wir im zweiten Schritt großzügig weiterschenken sollen: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!" (Lk 6,36)

Wie können Wallfahrten das Heilige Jahr der Barmherzigkeit aufgreifen? Ich sehe – neben der textlichen Gestaltung, die ich für ein absolutes Muss halte – vier Möglichkeiten, die uns Papst Franziskus ans Herz legt:
1) Die Barmherzigkeit mit den Hilfsbedürftigen sollte sich darin zeigen, dass auf der Wallfahrt für ein konkretes Projekt Geld gesammelt wird. Gerade im Jahr der Barmherzigkeit sollten alle Pilgerinnen und Pilger ihren Weg als „Solidaritätslauf" verstehen (siehe die vorangehende Frage Nr. 46).
2) Die Barmherzigkeit Gottes mit den Sünderinnen und Sündern kann sich am besten in der eigenen Umkehr zeigen. Papst Franziskus hat angeordnet, dass an allen Bischofskirchen wie an den römischen Papstkirchen eine Pforte der Barmher-zigkeit geöffnet wird. Durch Entscheidung des Ortsbischofs kann eine solche auch an großen Wallfahrtsheiligtümern geöffnet werden. „Die Pilgerfahrt soll darum Anreiz zur Umkehr sein. Wenn wir die Heilige Pforte durchschreiten, lassen wir uns umarmen von der Barmherzigkeit Gottes und verpflichten uns, barmherzig zu unseren Mitmenschen zu sein, so wie der Vater es zu uns ist." (MV 14)
3) Der Pilgerweg, den Menschen gehen, soll als Zeichen verstanden werden, dass keiner von uns schon am Ziel angelangt ist und alles weiß. Keiner ist also er-mächtigt, über andere zu urteilen und zu richten (MV 14). „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden." (Lk 6,37-38).
4) Ausdrücklich ruft der Papst auch zur interreligiösen Begegnung mit den beiden anderen monotheistischen Religionen auf (MV 23). Denn diese glauben ebenfalls an die überfließende Barmherzigkeit Gottes. Wo es möglich ist, wäre daher eine interreligiöse Wallfahrt ein angemessenes Zeichen. Nicht immer wird sie zu einem interreligiösen Pilgerziel führen können wie zum Beispiel zum Sterbehaus Mariens in Ephesus, zu dem Christinnen/Christen und Musliminnen/Muslime pilgern. Aber auch ein Pilgerweg von der örtlichen Kirche zur Moschee und Synagoge oder umgekehrt könnte ein eindrucksvolles Zeichen dieses Jahres sein.