Vorträge
Heiligenverehrung - Heiligsprechung - Heiligenerfahrung
Vortrag von Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand in Vierzehnheiligen
am Palmsonntag,1. April 2007
In der Politik, im Sport, in der Medienwelt spricht man mitunter von "Lichtgestalten" . Gemeint sind Menschen, die durch Leistung und Ausstrahlung ganze Lebensbereiche prägen und oft - wenn auch nur kurzfristig - zu Idolen und Vorbildern werden.
Gibt es solche Lichtgestalten auch im Glauben? In gewisser Hinsicht ja. Die Heiligen erinnern uns daran, dass es viele Frauen und Männer mit Ausstrahlung gibt - aber, und hier liegt der Unterschied, nicht durch eigene Leistung. Sie werden deshalb zu Lichtgestalten, weil sie in ihrem Leben die Liebe Gottes zum Leuchten gebracht und so unsere Welt heller gemacht haben. Im Lauf der Glaubensgeschichte gab es unzählige Frauen und Männer, die sich als Christen bewährt haben und deren Lebenszeugnis uns auf verschiedenste Weise Mut machen kann, Herausforderungen anzunehmen und zu bestehen. Die Heiligen sind Wegbegleiter, die uns verlässliche Orientierung auf unser Lebensziel hin geben können. Heilige können ganz anschaulich machen, dass wir nicht ins Ungewisse gehen. Sie vermitteln die Einsicht: Zukunft zeigt sich für den Glaubenden darin, dass Gott auf uns zukommt. Diese Überzeugung lässt sich aber nur durch Zeugen vermitteln und anschaulich machen. Wir dürfen deshalb dankbar sein für die große Zahl solcher Zeugen, die in ihrem Leben und Sterben deutlich gemacht haben, wie Gemeinschaft mit Gott gelingt und sich in der Nachfolge Jesu bewährt. „Die Heiligen sind der wichtigste Kommentar zum Evangelium", sagt Hans-Urs von Balthasar. 1 Das hört sich gut an und klingt überzeugend. Aber es ergeben sich auch Fragen, die vielen Zeitgenossen den Zugang zu diesen Lichtgestalten erschweren.
Kürzlich wurde ich von einer Frau angesprochen, die in unserer Bistumszeitung gelesen hatte, dass Papst Johannes Paul II. in seiner 26-jährigen Amtszeit mehr als 2000 Heilige und Selige proklamiert hat - mehr als alle Päpste vor ihm zusammen. Ist das nicht, so wurde ich gefragt, eine Inflation an Heilig- und Seligsprechungen, die niemand mehr überblickt? Und weiter: Maßt sich da die Kirche, vertreten durch den Papst, nicht die Sicherheit eines Urteils an, das eigentlich nur Gott zusteht? Und wie ist das speziell mit der Nothelferverehrung? Wird da nicht die Hoffnung auf Hilfe in Krisen und Krankheiten auf „außerirdische Mächte" gerichtet, anstatt selber aktiv zu werden? Ist diese Form der Frömmigkeit überholt?
Sicher haben Sie solche Fragen auch schon gestellt oder sind mit ihnen konfrontiert worden. Auf der Suche nach tragfähigen Antworten für heute möchte ich so vorgehen, dass ich zunächst einiges über die Entwicklung der Heiligenverehrung ganz allgemein sage, dann einige Überlegungen zur Heiligsprechung vortrage und schließlich am Beispiel der Nothelferverehrung auf die Heiligenerfahrung, also ihre Anrufung in Gebeten und bei Wallfahrten, zu sprechen komme. Meine Absicht ist es, scheinbar Vertrautes neu zu erschließen.
1. Heiligenverehrung
Es mag zunächst nützlich sein und dem besseren Verständnis dienen, wenn man einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung 2 wirft. Dabei zeigen sich mehrere Etappen. Neben Maria als der Mutter des Herrn und den Aposteln waren es in der frühen Kirche vor allem die Märtyrer, die man als Heilige verehrte - Menschen, die in der Verfolgungszeit für den Glauben den Tod in Kauf genommen hatten. Nach dieser Periode setzte vor allem die Verehrung großer Bischofs- und Priestergestalten ein, die als Bekenner bezeichnet werden. Erst allmählich erfolgte eine Erweiterung bis hin etwa zu der Aussage Papst Pius XI., dass der Heiligentyp des 20. Jahrhunderts der Laie und der Verheiratete sein müsse. Genau diesen Gedanken wollte Papst Johannes Paul II. verwirklichen:Die Vielzahl seiner Heilig- und Seligsprechungen sollte die Bandbreite gelebten Glaubens aufzeigen und darüber hinaus die Erkenntnis fördern, dass Heiligkeit keine elitäre Angelegenheit darstellt, sondern aus allen Lebensumständen erwachsen kann. Betrachtet man einmal die vielen Heiligengestalten unter übergreifenden Gesichtspunkten, so zeigt sich, dass verschiedenste Glaubensprofile in ihren jeweiligen Epochen maßgebend waren: Mönche und Einsiedler oft in Krisen- und Verfallszeiten; Bischöfe und Herrschergestalten, auch Missionare in Zeiten des Aufbaus, Ordensgründer und Theologen in Zeiten der Kirchenerneuerung. Auch die Nothelferverehrung geht in ihrer intensiven Ausprägung am Ende des Mittelalters auf einen Umbruch in der Glaubenserfahrung zurück: Jesus wird nicht mehr als der ferne Weltenrichter gesehen, sondern als der Heiland, der uns nahe kommt und uns in den verschiedensten Nöten durch heilige Helfer zur Seite steht. Vom 18. Jahrhundert bis heute finden wir verstärkt Menschen, die ihre Gottesbeziehung mit der sozial-caritativen Dimension des Glaubens verbinden. In dieser Entwicklung kann man zum einen die Vielfalt eines gelebten Gottesbezuges sehen, der sich ja immer in den Fragen und Problemen der jeweiligen Zeit und niemals losgelöst von konkreten Umständen verwirklicht. Man darf dies andererseits jedoch nicht so verstehen, als ob ein "Heiligkeitstyp" nahtlos den anderen ablösen würde - aber es gibt doch so etwas wie ein zeitbedingtes Überwiegen bestimmter Glaubensvorbilder. Interessant ist, dass sich unter den Heiligen immer wieder auch solche Gestalten finden, die in ihrer Zeit durchaus unbequem waren, die aber aus ihrer Verbundenheit mit Jesus heraus, der seiner Kirche die Treue hält, ihr „Ja" zu konkreten Strukturen sagen konnten - nicht, weil sie bloß an der Kirche litten, sondern vielmehr mit ihr; auf diese Weise entstand echte Erneuerung. Insgesamt lässt sich sagen: Es gibt verschiedene Lebensweisen der Heiligkeit, mit unterschiedlichsten Ausprägungen. Alle werfen ein ganz bestimmtes Licht auf den Weg zu Jesus Christus; kein Typus verkörpert das Ganze. Letztlich wird es immer auch so sein, dass sich die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Heiligkeit gegenseitig ergänzen.
2. Heiligsprechung
Es bleibt aber immer noch die Frage nach der Bedeutung einer offiziellen Heiligsprechung 3 für den Glaubensvollzug des Christen. Zunächst mag geschichtlich interessant sein, dass es formelle, „amtliche" Heiligsprechungen erst seit dem Mittelalter gibt; die Untersuchung über das Leben Elisabeths von Thüringen an deren Geburt vor 800 Jahren wir uns heuer erinnern, war einer der ersten Kanonisationsprozesse, die geführt wurden. Später kam es dann an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zur Unterscheidung von Heilig- und Seligsprechungen: Heilige sind universialkirchlich bedeutende Glaubensgestalten, während Selige eher regional oder lokal verehrt werden. Aber die Frage war, ob sich die Kirche bei all dem nicht doch ein Urteil anmaßt, das ihr nicht zusteht. Für das erste ließe sich kurz und bündig sagen: Ein christliches Leben, das aus der Verbindung mit Gott heraus gelingt, hat immer Bedeutung für andere, ja für die ganze Kirche. Denn Glaube vollzieht sich zwar immer ganz persönlich, aber ist nie eine bloße "Privatangelegenheit" . Zum zweiten Problem könnte man mit Karl Rahner so argumentieren: Die Kirche und ihr Lehramt maßen sich bei der Heiligsprechung eines Menschen nicht etwa ein Recht an - die Kirche erfüllt dabei vielmehr die Pflicht, das Ankommen der Liebe Gottes zu verkünden und es konkret zu benennen. Denn sie darf nicht nur einen allgemeinen Heilswillen Gottes preisen, sie muss vielmehr im Blick auf bestimmte Menschen und ganz konkrete Lebensumstände sagen können: "Gott hat wirklich erlöst, er hat wirklich seinen Geist ausgegossen, er hat wirklich Machttaten an den Sündern getan, er hat in der Finsternis sein Licht aufleuchten lassen; es brennt, es ist an ganz konkreten Menschen zu sehen." 4 Es geht mithin um die Aussage, dass sich Gnade wirklich ereignet. Heiligsprechungen sind deshalb zuallererst Aussagen über Gott, dessen Liebe Licht auf das Leben der Menschen wirft. Im Blick auf herausragende Lichtgestalten wird von der Kirche festgestellt: Es handelt sich wirklich um ein Lebenszeugnis, das auf diese oder jene Weise für andere den Zugang zu Gott eröffnet und verdeutlicht! Eine Heiligsprechung ist, wenn Sie so wollen, letztlich stets eine zeitbezogene Auslegung der Vater-unser-Bitte: „Geheiligt werde dein Name". Eine Heiligsprechung ist die Eröffnung eines neuen Weges mit ZieIangabe: Wer sich darauf einlässt, darf sicher sein, Gott zu begegnen! Die Vielfalt der dabei möglichen Wege zum einen Ziel schließt von vornherein aus, dass einer alle beschreiten kann; deshalb ist die Verehrung bestimmter Heiliger eine Möglichkeit und keine Verpflichtung - niemand wird gezwungen, bestimmte Gestalten zu verehren (wer kennt auch schon alle?). Aber er soll doch auch wissen - und darin liegt der offizielle, „amtliche" Charakter der Heiligsprechung - dass ihm Wegbegleiter zur Verfügung stehen, auf die er nicht einfach verzichten sollte. Damit sind wir aber bei der Frage nach dem „Umgang" mit den Heiligen, der Frage, wie wir sie im täglichen Leben erfahren. Am Beispiel der Nothelferverehrung möchte ich dazu im dritten Teil meines Vortrags einiges sagen.
3. Heiligenerfahrung
Bei meinen Gedanken zur Verehrung der 14 Nothelfer will ich nicht einfach das wiederholen, was andere schon besser gesagt oder geschrieben haben. Im Blick auf das geschichtliche Werden verweise ich auf die Arbeiten von P. Dominik Lutz OFM 5 als Beispiel für neuere - vor allem auch psychologische - Zugänge mag der Name von P. Anselm Grün OSB 6 stehen. Für mich ist die Nothelferverehrung der Testfall einer gelungenen Christusbeziehung, die durch die Heiligen amtlich wird. Das wird auch in der bildlichen Darstellung deutlich, in der die Heiligengestalten auf das Jesuskind in der Mitte hingeordnet sind. Ich sehe bei der Nothelferverehrung drei wichtige Perspektiven: Sie eröffnet einen Blick auf die Bandbreite gelebten Glaubens, sie zeigt die Bandbreite erlebter Nöte und macht die Bandbreite erfahrener Hilfe sichtbar.
a) Die Bandbreite gelebten Glaubens zeigt sich bei den vierzehn Nothelfern darin, dass gewissermaßen alle Formen christlicher Berufung vertreten sind: Laien genauso wie Bischöfe, Priester und Diakone, Alte und Junge. Es gibt viele Theorien, wie es zur „Gruppenbildung" der Nothelfer und zur konkreten Zahl von 14 kam; das muss hier nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend ist der dahinterstehende Grundgedanke: Heiligkeit ist kein indiertes Geschehen vor Gott, sondern führt zur Gemeinschaft im Glauben (wir sprechen ja theologisch auch immer von der Communio Sanctorum, der „Gemeinschaft der Heiligen") 7; Heiligkeit ist auch kein persönliches Privileg, sondern ein Geschenk zum Weitergeben. Und genau da setzt der Nothelfergedanke an: Ein gelungenes Leben aus dem Glauben, das sich in Herausforderungen bewährt und das seine Vollendung in Gott gefunden hat, ist immer auch eine ganz konkrete Hilfe in den Nöten späterer Zeit. Die Verbindung mit den Heiligen ist einerseits zeitbezogen und andererseits zeitlos: Zeitbezogen, weil sich ihr Leben immer unter ganz konkreten Umständen verwirklichte, aber genauso überzeitlich, weil jedes Leben von Gott in einem größeren Glaubenszusammenhang hineingestellt wird, der die Grenzen bestimmter Epochen überschreitet. Weil das Leben der Heiligen in seiner Vollendung durch Gott endgültig gelungen ist, hat es Gültigkeit für uns alle, von diesem Gemeinschaftsgedanken her ist auch das Wallfahren, so meine ich, mit die angemessenste Form der Nothelferverehrung, weil es in irdischer Entsprechung dieses „Miteinander" in Form des gemeinsamen Unterwegsseins im Glauben deutlich werden lässt. So sind die Wallfahrten im besten Sinn des Wortes Bewegungsübungen im Glauben, „Exerzitien auf der Straße", deren Bedeutung sicher für viele suchende Menschen noch zunehmen wird.
b) Die Nothelferverehrung steht aber auch für die Bandbreite erlebter Nöte. Man hat diesen Zugang zu manchen Zeiten sehr ausdifferenziert, indem man den Nothelfern eine Unzahl von Schutzfunktionen bei ganz bestimmten Krankheiten, Seuchen und Naturkatastrophen zuschrieb. Man darf unbefangen einräumen, dass dabei mitunter vor lauter Bäumen der Wald nicht mehr gesehen wurde und der Eindruck entstehen konnte, als ob die Nothelfer eine Art „himmlisches Regierungskabinett" bildeten, in dem jeder seine Spezialressorts verwaltet. Gerade die ökumenische Diskussion über die Heiligenverehrung 8 hat uns sensibel dafür gemacht, dass konkret erfahrene Lebenshilfe ihren letzten Grund immer darin hat, dass wir durch Jesus Christus erlöst sind. Aber seine Zuwendung kann auf menschlicher Ebene verschiedene Vermittlungsformen annehmen - je nach den Lebenssituationen; und so stehen die Nothelfer für exemplarische Nöte, die uns immer wieder betreffen: Gefährdung des persönlichen Lebens durch körperliche Krankheiten und seelisches Leid; Störungen in der Gemeinschaft wie der gefährdete Friede und Bedrohung der ganzen Schöpfung durch Naturkatastrophen. (Das macht z. B. auch die Entstehung der einzelnen Wallfahrten nach Vierzehnheiligen deutlich, soweit sie noch fassbar ist 9: Anlässe sind solche Seuchen wie Unwetter oder auch Gelübde in persönlichen Nöten.) Die Suche nach Wegen, wie wir vom Glauben her solchen Herausforderungen begegnen können, verläuft aber nie anonym. Hilfe im Glauben erfahre ich vielmehr am besten durch persönliche Begegnung mit Glaubenszeugen, deren Leben sich selbst in Nöten bewährt hat, kann Hilfe bringen und Lichtblicke schenken, durch die ich mein Leben im großen Zusammenhang vor Gott sehe und neue Perspektiven gewinne.10 In diesem Gedanken liegt auch schon eine Erwiderung auf den manchmal erhobenen Vorwurf, die Anrufung der Nothelfer mache die Menschen passiv: Gerade im Blick auf ihre Glaubensbewährung wird Glaubenskraft freigesetzt, die es mir ermöglicht, individuelle und soziale Herausforderungen neu in den Blick zu nehmen und sie anzugehen.
c) Damit bin ich schon bei meinem dritten Gedanken: Die Nothelfer stehen auch für die Bandbreite erfahrener Hilfe. Sie zeigen nämlich in unterschiedlichster Weise, wie wir in einer uns oft verwundenden und verletzenden Welt einer heilenden Glaubensverbindung mit Jesus Christus finden können - einer der tiefsten und schönsten Christusbezeichnungen ist auch heute noch das Wort „Heiland". 11 Die Nothelfer weisen Wege zur Heilung im Glauben und machen deutlich, dass die solidarische Liebe Gottes, die in Jesus Christus Gestalt geworden ist, sich gerade in der Bedrohung des Lebens als stark und belastbar erweist: Sie kann uns zeigen, dass Halt in der Unsicherheit möglich ist (dafür steht etwa die Gestalt des Wegbegleiters Christophorus), dass wir als Christen Anwälte der bedrohten Schöpfung sind (dafür steht etwa Ägidius), dass die zerstörende Macht von Emotionen nicht die Oberhand behält (symbolisiert in Georg und Margareta), dass es Halt in Krankheit gibt (verkörpert durch Blasius), dass Orientierung in Glaubenskrisen möglich ist (dafür steht Dionysius, der den klaren Kopf auch dann noch behält, als man ihn enthauptet...), dass der Glauben auch Kraft in Zwängen und Einengung gibt (dafür steht Barbara), dass Christsein auch ideologischer Verwirrung standhält (das macht Katharina deutlich).
Entscheidend ist, dass durch all dies Zugänge der Nothelferverehrung jedes Mal ein Weg zur Heilung im Glauben gefunden und das Vertrauen auf Gott gestärkt wird. Gestatten Sie mir noch einige Schlussbemerkungen. Die Geschichte der Nothelferverehrung hat eine längere Entwicklung, bis sich die Zahl 14 herausbildet. Auch danach wurden in einzelnen Regionen immer wieder lokale Heilige zu dieser Gruppe hinzugezählt.12 Darin steckt ein tiefer Sinn - die Nothelfer sind keine geschlossene Gesellschaft, sondern offen für Mitwirkende. So ist es z. B. sinnvoll, die eigenen Namenspatrone in die persönliche Nothelferverehrung zu integrieren oder bei bisher nicht gekannten Herausforderungen nach neuen Nothelfern Ausschau zu halten, welche die bisherigen nicht verdrängten, sondern ergänzen: So sehe ich z. B. Edith Stein auf der Linie der hl. Katharina in der weltanschaulichen Auseinandersetzung oder Selige der sozialen Reform wie Adolph Kolping und Paul-Joseph Nardini in der zeitgemäßen Weiterführung von Ansätzen, die sich bei Blasius und Pantaleon zeigen. Der Kreis der Nothelfer lässt sich erweitern - denn dahinter steht die grundsätzliche Einsicht: Es gibt über die "offiziellen" Heiligen hinaus viele Helferinnen und Helfer im Glauben, die größeren Kreisen unbekannt sind und vielleicht "nur" - aber das wäre schon viel! - unser persönliches Leben in seiner Ausrichtung auf Jesus Christus als Vorbilder geprägt haben. Das können Eltern, Verwandte und Freunde sein. Auch von solchen Menschen dürfen wir glauben, dass sie über den Tod hinaus in die Gemeinschaft der Heiligen einbezogen und so mit uns verbunden sind. Denn Heiligsprechungen durch den Papst können immer nur exemplarisch und modellhaft deutlich machen, was in der Wirklichkeit in viel größerer Fülle vorhanden ist. Etwas von dieser Fülle macht ein Projekt deutlich, das bei uns in Deutschland vor Kurzem zum Abschluss kam: Im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf das Heilige Jahr 2000 hat die Bischofskonferenz eine zweibändige Darstellung der katholischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts erstellen lassen.13 Es enthält Lebensbeschreibungen von über 700 Männern und Frauen, die in unserer Zeit für den Glauben ihr Leben gelassen haben; ein Großteil davon unter der nazistischen oder kommunistischen Diktatur. Viele dieser Menschen waren fast schon vergessen oder nur noch wenigen bekannt; daraus wird deutlich: Heiligkeit beginnt und endet nicht mit der „offiziellen" Verehrung, so bedeutsam diese auch ist. Der neutestamentliche Sprachgebrauch kann noch an diese erweiterte Bedeutung erinnern, die unter "heilig" alle versteht, die zu Gott gehören - etwa wenn Paulus ganz unbefangen im Römer- und im ersten Korintherbrief wie auch bei anderen Gelegenheiten von den Gemeindemitgliedern aufgrund ihrer Berufung und ihres tätigen Zeugnisses als den "Heiligen" spricht (vgl. Röm 16,25 und 1 Kor 1,2).
Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie für sich ganz persönlich immer wieder neu solche ,,Lichtgestalten" entdecken, nämlich Glaubenszeugen, durch die unser Leben hell wird und die uns in den Wechselfällen des Daseins verlässlich begleiten und die uns die tröstliche Einsicht vermitteln, dass Gottes Liebe uns auf vielen menschlichen Wegen erreicht. Die Verehrung der vierzehn Nothelfer bietet dafür ermutigende Beispiele - möge das auch in Zukunft so bleiben!
- 1 M. Kehl - W. Löser (Hrsg.): In der Fülle des Glaubens. Hans-Urs von Balthasar - Lesebuch (Freiburg i. Br. 1980) 358
- 2 Dazu finden sich viele Hinweise in: W. Beinert (Hrsg.): Die Heiligen heute ehren (Freiburg i. Br. 1983) bes. 96 - 113
- 3 siehe dazu P. Manns (Hrsg.): Die Heiligen in ihrer Zeit (Bd 1, Mainz 2 1966) 27-39
- 4 K. Rahner, Die Kirche der Heiligen. Schriften zur Theologie III (Einsiedeln 1956) 111-126;hier: 114
- 5 R. Termolen - P. Dominik Lutz, Nothelfer - Patrone in allen Lebenslagen (Lindenberg 2 2006)
- 6 Anselm Grün, Wunden zu Perlen verwandeln. Die 14 Nothelfer als Ikonen der Heilung (Münsterschwarzach 6 2006)
- 7 G. L. Müller, Gemeinschaft und Verehrung der Heiligen. Geschichtlich-systematische Grundlegung der Hagiologie (Freiburg i. Br. 1986) 236-264
- 8 s. dazu Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen Bilaterale Arbeitsgruppe der DBK und der VELKD (Paderborn/Frankfurt/M. 2000) 110-119
- 9 Vgl. dazu P. Dominik Lutz, Wallfahrt nach Vierzehnheiligen (Staffelstein 1989)
- 10 J. Imbach, Der Heiligen Schein. Heiligenverehrung zwischen Frömmigkeit und Folklore (Würzburg 1999) 261-266
- 11 K. Hillenbrand, Jesus hat viele Namen. Verstehenshilfen und Glaubensimpulse (Würzburg 1997) 7
- 12 s. dazu Termolen - Lutz (Anm. 5I 15-48)
- 13 H. Moll (Hrsg.): Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts (2. Bd, Paderborn 1999)
Vortrag von Wallfahrtsführer Bernhard Schweßinger
am Palmsonntag, 1. April 2007, im Diözesanhaus Vierzehnheiligen
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Wallfahrer und Wallfahrtsführer,
von Erfahrungen mit der Wallfahrt kann hier im Saal vermutlich jeder und jede berichten. Wallfahrt, Wallfahrten – das ist etwas, worüber man erzählen kann, ja immer wieder erzählen muss, weil Wallfahrt so schön sein kann und einen innerlich so bewegt; weil sie vielleicht auch etwas bewegt hat.
Es gibt vieles, worüber man erzählen kann:
- die Aufbruchstimmung in der Heimatkirche,
- das gemeinsame Gehen bei Sonne, Wolken oder Regen,
- das Beten und Singen, das gute Gespräch und das wohltuende Schweigen unterwegs,
- die Gemeinschaft beim Gehen und bei der Rast, die in dieser Weise immer mehr zur Seltenheit wird,
- das Ankommen am Gnadenort und der Jahr für Jahr immer wieder ergreifende und erfüllende Einzug in die Wallfahrtsbasilika der vierzehn Nothelfer,
- die Stunden am Gnadenort mit persönlichem Gebet, Wallfahrtsamt, vielleicht Empfang des Bußsakraments, mit dem Genießen der Basilika und ihres Umfeldes, mit dem Beisammensein im Diözesanhaus am Abend und beim gemeinsamen Essen,
- der Abschied von der Basilika und der Aufbruch zum Heimweg,
- das erneute Unterwegssein,
- schließlich der Empfang in der Heimat.
Ich darf Ihnen als Wallfahrtsführer der Pfarrei Sankt Johannes der Täufer in Waischenfeld in der Fränkischen Schweiz einige Erfahrungen mitteilen. Doch keine Sorge, ich erzähle Ihnen nicht lokale Geschichten unserer Wallfahrt, vielmehr will ich meine Erfahrungen als Grundlage für aktuelle Phänomene nehmen, die sicher auch andere Wallfahrten so erleben. Andere wiederum mögen ihre Wallfahrt ganz anders erleben. Meine Erfahrungen mit dieser Vierzehnheiligenwallfahrt gehen inzwischen auf 26 Jahre zurück und sie beginnen mit dem Erzählen.
Für uns damals Jugendliche hatten die Alten, die Generation meines Großvaters, immer von der Vierzehnheiligenwallfahrt erzählt – Theologen würden heute von einer narrativen Theologie sprechen. Die Alten hatte von der langen Tradition der Wallfahrt erzählt, vom Wallfahrtsbild aus dem Jahr 1887, von der großen Nachkriegswallfahrt im August 1945 mit 350 Leuten und von manch heiteren Begebenheiten während der Wallfahrten. Doch für uns 17-Jährige gaben 1981 neben den Erzählungen nur noch das verstaubte Wallfahrtsbild in der Annakapelle sowie zwei Bildnisse der Nothelfer im Ort Zeugnis von dieser Tradition. Die Wallfahrt war – wie so viele in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts – eingeschlafen.
Ich darf den Aufruf unseres damaligen Stadtpfarrers aus dem Jahr 1969 zitieren. Geistlicher Rat Hanns Völker schrieb damals:
„Oder ist man vielleicht der Ansicht, eine Fußwallfahrt wäre eine unmoderne und veralterte Sache? Solch Meinungen sind bestimmt fehl am Platze, denn warum brauchen wir heute gerade keine Wallfahrten mehr? Haben wir vielleicht keine Anliegen mehr? Seien es persönliche oder allgemeine. Noch nie hat es in der Welt so viele Krisen und Gefahren gegeben als wie heute. Oder warten wir erst ab, bis eine Katastrophe über uns hereingebrochen ist, bis wir uns dazu bewegen lassen, eine solche Buße auf uns zu nehmen? Warum sollten wir in einer Zeit, in der unser katholischer Glaube viel diskutiert und kritisiert wird, uns zurück in unsere Gotteshäuser verkriechen? Gerade durch eine solche Wallfahrt legen wir ein offenes Bekenntnis zu unserem Glauben ab."
Die Wallfahrt fand mit geringer Beteiligung statt, war aber vorerst die letzte.
1981 gingen wir als Jugendliche zu dritt nach Vierzehnheiligen, um die Wege zu erkunden, die uns die Alten erzählt hatten, manche Wege gab es nicht mehr, manche beschriebene Wirtschaft war verschwunden. Drei Tage waren wir unterwegs – und konnten aus diesen Erfahrungen heraus ein Jahr später die neue Wallfahrt nach Vierzehnheiligen ausschreiben. Rund 45 Leute gingen mit, davon 15 Musikanten. Die neue Wallfahrt hatte einen guten Anfang genommen und wuchs Jahr für Jahr. Heute gehen rund 160 Personen mit.
Aus der Anfangserfahrung mit drei und dann mit 45 Leuten ist mir stets vor Augen, dass Zahlen nicht allein eine Wallfahrt ausmachen. Fast überall gab es in den 80er Jahren diese Aufbrüche in der Wallfahrtstradition, die sich bis heute immer noch steigern. Wenn ich auf die wechselvolle Wallfahrtsgeschichte von Vierzehnheiligen im Laufe der Jahrhunderte blicke, so sehe ich die heutige Wallfahrtseuphorie zwar voller Freude, aber doch auch mit einer gewissen Nüchternheit. Ich frage mich, warum gehen heute so viele Menschen bei Wallfahrten mit und welche Menschen erreichen wir hierbei als Kirche? Und das in Zeiten, in denen die Gotteshäuser immer leerer werden. Was macht Wallfahrt heute so interessant? Was macht die Wallfahrt nach Vierzehnheiligen so interessant für die Menschen?
Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand hat in seinem Vortrag bereits auf ein Ergebnis meiner damaligen Diplomarbeit an der Universität Bamberg zu den Wallfahrtsbüchern von Vierzehnheiligen hingewiesen. Vom reuigen Sünder zum dankbaren Pilger – so hatte ich 1991 ein Ergebnis meiner Untersuchungen der Wallfahrtsbücher aus der Zeit der Anfänge der Vierzehnheiligenwallfahrt nach den Erscheinungen von 1445/46 bis zum aktuellen Pilgerbuch „Kirche unterwegs" beschrieben. Heute möchte ich dem eine aktuelle Ergänzung aus persönlicher Wallfahrtserfahrung der jüngsten Jahre anhängen: Unter den Wallfahrern heute sind viele dankbare Pilger, die aber immer häufiger auch religiös Suchende sind: Menschen, die nicht mehr so fest in unsere Pfarreistrukturen eingebunden sind und mit der Kirche so manche persönliche Probleme haben; die neben dem religiösen Event der Wallfahrt das Gemeinschaftserlebnis schätzen und denen die wenigen Tage der Wallfahrt zur Füllung ihres religiösen „Tanks" für den nächsten Abschnitt reichen.
Waren es bei den Neuaufbrüchen der 80er Jahre besonders die treuen Pfarreimitglieder, die sich den Wallfahrten anschlossen – sicher sind es vielerorts auch bis heute die treuen Katholiken, die mitgehen, – so sind heute immer mehr auch sogenannte „Kirchenferne" bei Wallfahrten anzutreffen: Wallfahrt heute darf als ein Stück Fernstehenden-Pastoral bezeichnet werden.
Da erlebe ich eigentlich Kirchennahe, die aber in der Seelsorge vor Ort nicht mehr so richtig zuhause sind und zu Enttäuschten, aber auch zu Suchenden geworden sind.
Da erlebe ich die mittlerweile große Schar wiederverheirateter Geschiedener, die sich oft schon weit von der Kirche entfernt hat, sich aber bei einer Wallfahrt – als zwar religiös sehr intensives, aber doch irgendwie niederschwelliges Angebot – aufgehoben weiß.
Da erlebe ich Menschen, die mit Kirche eigentlich abgeschlossen haben, aber doch ein solches religiöses Jahresevent schätzen, vielleicht auch die sportliche Herausforderung einer langen Wegstrecke suchen und das Gemeinschaftserlebnis genießen.
Da erlebe ich Banker und Finanzfachleute, Studierte und Handwerker, auch Urlauber, die seit Jahren in der Fränkischen Schweiz ihre Ferien verbringen und mitwallen. Da erlebe ich einen 75-Jährigen, der als Kind über die Kinderlandverschickung von Hamburg nach Franken gefunden hatte und sich bis heute ganz eng mit der Welt seiner Kindheit verbunden fühlt und die Wallfahrt als wichtigen Begegnungsort erfährt. Da erlebe ich Menschen aus vielen Orten weit über die Pfarrgemeinde hinaus, die sich auf dem Markt der Wallfahrten gerade diese eine Wallfahrt aussuchen.
Da erlebe ich sicher auch – und sie seien herausgehoben – immer noch den treuen Stamm der Katholiken, die auch heute in den Gemeinden dafür sorgen, dass das Engagement der Laien in den Pfarreien nicht erlischt.
Ich darf von Glück sprechen, dass wir durch die eigene Wiedergründung in der Jugendarbeit zunächst eine – vom Altersdurchschnitt her – ganz junge Wallfahrt waren und heute vor allem Familienwallfahrt sind; mit vielen Menschen, die in Verantwortung mitten im Leben stehen. Und mir ist klar: Wir müssen stets darauf schauen, die Jugend immer neu für die Wallfahrt zu gewinnen und zu begeistern.
Insgesamt ist meine Sicht der Pilger heute anders als vor Jahren. Ich akzeptiere es heute, wenn Menschen, die sonst wenig mit der Kirche am Hut haben, zwei, drei Tage bei einer Wallfahrt sind und danach wieder ihre eigenen Wege gehen. In meinen ersten Jahren als Wallfahrtsführer hatte ich immer in der Schlussansprache sehr deutlich darauf verwiesen, was von der Wallfahrt für das Gemeindeleben ausgehen sollte und wie sie in den Alltag der kommenden Zeit hineinwirken könnte, sollte. Heute bin ich zurückhaltender: Die Menschen sollen die Tage der Wallfahrt gut im Gedächtnis bewahren und bei der Wallfahrt für ihre Verhältnisse religiös auftanken können. Wir sollten sie aber auch wieder ziehen lassen – so sie dies wollen. Wir sollten sie ihre Wege gehen lassen in der festen Hoffnung, sie eine kleine Wegsstrecke ihres Lebens begleitet zu haben. Ich bin überzeugt, dass so manches bei der Wallfahrt Erlebte Menschen, die der Kirche fern stehen, durch das Jahr trägt. Wenn wir das deutlich machen können, was das Zweiten Vatikanische Konzil in „gaudium et spes" sagt, dann nehmen die Menschen mit, dass Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst von uns als pilgerndes Gottesvolk sind.
Wenn ich aktuell lese, was der Bischof von Erfurt, Dr. Joachim Wanke, zum Elisabeth-Jahr schreibt, so mag das auch ein Impuls für die kommenden Jahre der Wallfahrtsseelsorge sein: die „Sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute". Sie mögen auch Hilfe für unsere Wallfahrten sein. Bischof Wanke schreibt:
"Du gehörst dazu. Menschen, die am Rand stehen einbeziehen.
Ich höre dir zu. Zeit und persönliches Interesse für die aufbringen, denen keiner zuhört, an deren Leben niemand Anteil nimmt.
Ich rede gut über dich. Denen Ansehen geben, die übersehen, abgeschrieben oder verurteilt werden.
Ich gehe ein Stück mit dir. Orientierungslosen Rat und Hilfe anbieten, einen schweren Weg mitgehen.
Ich teile mit dir. Jene nicht leer ausgehen lassen, denen das Nötigste zum Leben fehlt.
Ich besuche dich. Einsame, Fallengelassene, die „Fortschrittsverlierer" aufsuchen.
Ich bete für dich. Auf Gott aufmerksam machen, für Lebende und Verstorbene beten."
Was macht Wallfahrt heute interessant? Ich möchte sagen: Die Mischung macht es: das Unterwegssein und das Verweilen, die Nüchternheit manchen Weges und der Glanz der Nothelferstätte, das Gemeinschaftserlebnis und die Zeit für persönliches Gebet, die sportliche Herausforderung und das Getragensein durch die Weggefährten, das herrliche Naturerlebnis und das Zusammensitzen bei einer Rast, das religiöse Gespräch und das gemeinsame Beten und Singen, die Sorglosigkeit, sich in diesen Tagen einmal um wenig kümmern zu müssen.
Als Wallfahrtsführer, die wir ja oft nicht nur technische Organisatoren, sondern auch geistliche Begleiter der Wallfahrt sind – gerade bei einer Wallfahrt wird besonders augenfällig, wie wichtig für die Kirche das Laienengagement ist –, können wir oft schon mit „Kleinigkeiten" einer Wallfahrt den bestimmten Kick geben. Ich darf einige Beispiele nennen, die bei uns von den Wallfahrern in den vergangenen Jahren als sehr positiv aufgenommen wurden.
Da ich selber an keine jahrhundertealte Tradition – von bestimmten Gebeten an ganz bestimmten Stellen und Wegen – gebunden war, ist es mir immer möglich, Teile des Programms der Wallfahrt zu wechseln. Als sehr hilfreich empfinde ich, der Wallfahrt ein bestimmtes Motto zu geben und dies dann auch immer wieder in die Wallfahrt einfließen zu lassen. Das mag einmal ein für die Kirche in Deutschland bestimmendes Thema sein (Jahr der Bibel), ein vom Papst vorgegebenes Motto (Jahr der Eucharistie), ein Motto des Bistums (Jubiläumsjahr) oder auch einmal ein zur Wallfahrt passendes persönliches Thema (Meine Zeit in Gottes Händen).
Einige Erfahrungen mit dem Motto:
Im Jahr der Eucharistie hatten wir – was wir sonst nicht tun – die Wallfahrt mit Aussetzung des Allerheiligsten und eucharistischen Segen begonnen. In den Dorfkapellen, an denen wir Rast machten, gab es – dank der Teilnahme eines Priesters an der Wallfahrt – bei der Ankunft ebenfalls Aussetzung mit Gebet und eucharistischen Segen. In Vierzehnheiligen feierten wir das Wallfahrtsamt, dann aber zusätzlich in der Kapelle des Diözesanhauses um 22.15 Uhr das Abendgebet vor dem Allerheiligsten; schließlich war auch die Abschlussandacht bei der Rückkehr nachts um 21 Uhr in der Heimatkirche mit Aussetzung des Allerheiligsten und sakramentalen Segen gestaltet.
Im Jahr der Bibel: Sichtlich bewegt war damals der Klosterchef von Vierzehnheiligen, Guardian Franziskanerpater Claus Scheifele, wie wir mit der Bibel in der Mitte am Gnadenort der Nothelfer einzogen. „Als ihr am Samstagnachmittag angekommen seid, habe ich zwei Buben mit brennenden Kerzen in euren Reihen gesehen und gedacht, dies sei eine verfrühte Lichterprozession. Doch als ich dann die von einem Wallfahrer getragene Heilige Schrift dazwischen sah, war ich gerührt", sagte Pater Claus beim Wallfahrtsamt. Und der Wallfahrtseelsorger wertete unsere Initiative weiter auf, indem er die mitgetragene Bibel vor dem Gnadenaltar aufstellen ließ, geschmückt mit Blumen und brennenden Kerzen. Beim Auszug überreichte Pater Claus die Heilige Schrift feierlich wieder an uns Pilger, die sie dann auf dem knapp 50 Kilometer langen Weg in ihre Heimatstadt zurücktrugen. Die Jugendlichen, Frauen und Männer nahmen die Bibel, trugen sie eine Wegstrecke und gaben sie an den Nachbarwallfahrer weiter. So kam es selbst vor, dass bei einer Rast in einer Gastwirtschaft in der Bibel geblättert wurde.
Thema Heilige: Wie ergreifend erlebten die Pilger dieses Motto, als wir die Allerheiligenlitanei erweiterten und den Vornamen jedes Wallfahrers einfließen ließen.
Thema „Meine Zeit in Gottes Händen": Das war eine Wallfahrt, die besonders von Stundengebet geprägt war: von der Laudes bei Sonnenaufgang, dem Mittagsgebet, der Vesper auf der letzten Wegstrecke nach Vierzehnheiligen, dem Abendgebet in der Hauskapelle. Und wie gesagt, wir müssen nicht immer Neues erfinden: Das Lied „In dieser Nacht sei du mir Schirm und Wacht" einmal wieder gesungen, war manchem Pilger ein neues Erlebnis.
Erfahrungen mit dem Gebet:
Ich habe manchmal den Eindruck, über den Umweg des Interesses an asiatischen Religionen und religiösen Praktiken gewinnt der Rosenkranz bei manchen Zeitgenossen wieder an Ansehen. Bei einer Wallfahrt spielt der Rosenkranz sicher eine ganz besondere Rolle. Der Rosenkranz ist das Gebet der Wallfahrt. Theologisch, religiös, weil wir die Geheimnisse des Lebens Jesu gut meditieren können und auch Zeit dafür haben. „Gehen im Rhythmus des Rosenkranzes" hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1988 eine Reportage über die Wallfahrt der Nordheimer überschrieben. Bei Wallfahrtsführern kommen aber auch ganz praktische Gedanken zum Rosenkranz hinzu, die ich kurz erwähnen darf:
Beim Rosenkranz laufen die Leute schneller (geeignet für öde Strecken, die unendlich erscheinen).
Beim Rosenkranz laufen die Pilger auch geordneter, weshalb wir ihn vor allem auch auf stärker befahrenen Straßen beten, die wir nicht umgehen können.
Beim Rosenkranz kann man die äußeren Missstände eher gedanklich wegstecken (Schwäche der Füße, starker Regen, Hitze).
Die Feier der Tagzeiten hatte ich bereits kurz erwähnt. Sie sind ideal geeignet, um einen Wallfahrtstag den Rahmen zu geben. Zwar ist manches an Laudes, Vesper oder Komplett den Menschen von heute fremd, doch gibt es viele Möglichkeiten der praxisnahen Gestaltung für Wallfahrer, die ja nicht unbedingt lesend durch die Fluren laufen wollen.
Wir sollten keine Berührungsängste haben, die Wallfahrt immer wieder zu verändern und neue, aktuelle Impulse zu setzen. Aus meinen Untersuchungen der Wallfahrtsbücher weiß ich, dass auch beispielsweise im 18. und 19. Jahrhundert „Modeerscheinungen" in die Wallfahrt aufgenommen wurden; beispielsweise Litaneien von den heiligen Engeln oder bestimmten Heiligen wie Josef, Wendelin oder Sebastian. Für unsere Wallfahrt ist es in den vergangenen Jahren beispielsweise wichtig geworden, die ökumenische „Woche für das Leben" als einstündige Andacht einfließen zu lassen. Das Thema bietet immer einen sehr guten Bezug zu aktuellen Fragen rund um den Schutz des Lebens und bietet außerdem Raum für die Ökumene bei einer Wallfahrt. Bei nicht wenigen Wallfahrten dürften mittlerweile auch evangelische Christen dabei sein, die dieses Erlebnis immer mehr zu schätzen wissen.
Die Stille: Das Bedürfnis nach stillen Wegstrecken hat meiner Meinung nach bei den Wallfahrern sehr zugenommen. Eine halbe Stunde gehen, ohne zu reden, vielleicht im stillen Gebet, aber auch um Zeit zum Nachdenken zu haben – das schätzen die Wallfahrer sehr. Besonders beeindruckend erlebe ich die Stille auf unserer letzten Wegstrecke vor Erreichen der Heimat. In den ersten Jahren beteten wir hier immer den Rosenkranz für die Verstorbenen, von daher fiel es mir schwer, für dieses Gebet einen anderen Platz zu finden. Die Änderung der Wegstrecke half mir: Wegen zweier Wallfahrtsunfälle unserer Nachbarpfarreien legten wir Ende der 80er Jahre, soweit es möglich war, alle Wegstrecken weg von der Straße. So gehen wir heute auch die letzte Etappe auf einen Fußpfad, wo das Rosenkranzgebet schwer möglich ist. Wir entschieden uns für die Stille: Jeder kann nochmals – erschöpft von einer Tagesetappe mit rund 50 Kilometern und im stimmungsvollen abendlichen Wiesenttal – seine ganz persönlichen Anliegen formulieren und über seine Wallfahrt nachdenken. Ich erlebe das ganze Jahr über keine solche Ruhe wie in diesen 30 Minuten.
Wichtig ist das Totengebet. Der Rosenkranz für die Verstorbenen, aber auch eine österliche Andacht für die Verstorbenen. Wir nennen die Namen aller Pilger, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Dabei steht jedem das Wasser in den Augen. Kreuzweg, Litaneien, Andachten, Liedauswahl, Musik – es gäbe noch manches aus der Praxis zu berichten. Und natürlich das Thema Buße. Eine Bußandacht auf dem Weg sollte fester Bestandteil einer Wallfahrt sein. Glück haben die, die einen Priester unterwegs dabei haben und beim Gehen zum Beichtgespräch eingeladen sind. Dieses Angebot nehmen nach meinen Beobachtungen Pilger gerne an. Doch wie ist es mit der Beichte am Wallfahrtsort? Vielleicht haben ja die Patres hier und andere Wallfahrten andere Erfahrungen: Aus meiner Beobachtung heraus spielt die Beichte am Wallfahrtsort nicht mehr die bedeutende Rolle. Das mag mit dem allgemeinen Rückgang der Beichte zu tun haben, vielleicht muss die Kirche aber auch neue Zugänge zu diesem Sakrament schaffen.
Abschließend möchte ich kurz noch einige aktuelle Fragen antippen: Sind die neuen Strukturen unserer Bistümer auch bei der Wallfahrt umsetzbar? Soll Wallfahrt weiter auf Pfarreiebene durchgeführt werden oder soll sie ein neues Bindeglied einer Pfarreiengemeinschaft oder eines Seelsorgebereichs sein? Ich wage kein allgemein gültiges Urteil abzugeben. Wallfahrt kann eine Chance sein, um eine Pfarreiengemeinschaft zusammenzuführen. Sie kann aber auch zu einem bedeutsamen Zeichen der übriggebliebenen Eigenständigkeit einer Pfarrgemeinde werden. Diese Entscheidung hängt stark von bestehenden Traditionen ab. Wenn eine Pfarreiengemeinschaft eine Wallfahrt neu einführt, könnte dies gemeinsam geschehen. Eine andere Möglichkeit wäre sicher auch, dass Pfarreien eines Seelsorgebereichs zwar eigenständig wallen, sich aber unterwegs zusammenfinden und dann gemeinsam das Ziel erreichen. Es gibt hier sicher noch viele Entwicklungsmöglichkeiten.
Mehr Service für Wallfahrtsführer? Ich würde mir wünschen und könnte mir vorstellen, dass Wallfahrtsführern sehr geholfen wäre, wenn es eine Service- und Austauschbörse im Internet gäbe. Mir ist zumindest keine bekannt. Dort müssten beispielsweise aktuelle Andachten abrufbar sein, neue Gebete genannt werden, und vieles mehr. Wenn ich heute unter www.wallfahrt.de nur auf Kloster Andechs treffe und bei www.wallfahrten.de eine Partnersuchagentur finde, ist das zu wenig. (Wobei natürlich eine Wallfahrt auch bei der Partnersuche hilfreich sein kann).
In den kommenden Jahren werden die Bistümer gut auf Ihre Wallfahrtsorte als geistliche Zentren achten müssen, gerade wenn sich die Orden immer mehr zurückziehen. Gibt es eigentlich Überlegungen für eine künftige Pastoral der Wallfahrtsorte? Wir hoffen, dass unsere bayerischen Franziskaner noch lange in Vierzehnheiligen bleiben. Doch viele kennen es von anderen Pilgerstätten, wo sich Orden derzeit zurückziehen. Wäre an Wallfahrtsorten nicht auch ein stärkeres Zusammenspiel von Priestern und hauptamtlichen pastoralen Laienmitarbeitern denkbar?
Liebe Wallfahrer,
vor allem zahlreiche Wallfahrten aus Unterfranken kommen bei ihrem Weg nach Vierzehnheiligen in den Genuss, die Wallfahrtsbasilika schon vom Banzgau her zu sehen. Mit dem Ziel des Prachtbaus Balthasar Neumanns vor Augen dürfen sie die letzte größere Wegstrecke gehen und sich immer mehr auf den Einzug in Vierzehnheiligen freuen. Wir Wallfahrten aus dem Fränkischen Jura kommen von der anderen Seite, von oben. Die letzte Wegstrecke von Lahm bis Vierzehnheiligen geht vorbei an steinigen Äckern, die Luft bläst immer rau auf dem Höhenkamm, die Basilika kann man nur voller Vorfreude erahnen. Erst auf den allerletzten Metern taucht sie vor den Wallfahrern auf. Versuche ich diese Situation zu deuten, so kann ich als Vierzehnheiligenpilger „von der Höhe" sagen: Wir dürfen uns nicht von der Schönheit dieses Prachtbaus, dieses wunderbaren Gotteshauses, blenden lassen. Am Anfang von Vierzehnheiligen steht ein steiniger Acker, auf dem ein kleines Kind im Kreis der vierzehn Nothelfer einem Hirten erscheint.
Für mich selber ist bei der Wallfahrt der Aufenthalt in der Basilika ganz wichtig. Ich liebe die wenigen Stunden, die ich dort verbringen darf. Wenn wir das Gotteshaus dann morgens wieder verlassen, fange ich aber nicht „traurig an zu singen", wie ein altes Pilgerlied beginnt. Vielmehr spüre ich, wie es der Apostel Paulus sagt: „Wir haben keine bleibende Stätte". Dankbar für diesen Gnadenort heißt es dann wieder aufbrechen. Wenn wir dann mit „Ein Haus voll Glorie schauet" den Gnadenaltar ein letztes Mal für dieses Jahr umrundet haben, geht es mit den weiteren Strophen hinaus: „denn du hast uns bestellt zu Zeugen in der Welt". Und wenn wir oben am Berg die Basilika hinter uns liegen haben, erklingt die letzte Strophe voller Zuversicht: „Sein wandernd Volk will leiten der Herr in dieser Zeit, er hält am Ziel der Zeiten dort ihm sein Haus bereit." Als Wallfahrer sollte uns stets bewusst sein: Wir sind unser Leben lang unterwegs, wir sind Pilger, geleitet vom Herrn auch durch diese Zeit, und wir sind voller Zuversicht, dass er uns am Ziel der Zeiten empfängt. Wenn wir das unseren Wallfahrern mitgeben können, wenn wir ihnen in einer Zeit des religiösen Suchens vermitteln können, dass Gott sie durch ihr Leben begleitet und einst erwartet, dann haben unsere Wallfahrten eine große Chance. Dann können sie dem religiösen Hunger der heutigen Menschen stillen helfen. Das wünsche ich allen Wallfahrten, die nach Vierzehnheiligen und zu den vielen anderen „heimlichen Hauptstädten unseres Landes" (Konrad Adenauer) unterwegs sind.